„Uefa ist für den Tod von vielen Menschen verantwortlich“: Was ist dran an Lauterbachs Fußballprognose?

Mehr als 40.000 Zuschauer haben das EM-Fußballspiel zwischen England und Deutschland im Londoner Wembley-Stadion gesehen.

Mehr als 40.000 Zuschauer haben das EM-Fußballspiel zwischen England und Deutschland im Londoner Wembley-Stadion gesehen.

Ein scharfes Urteil hat vor wenigen Tagen der Gesundheitsexperte und SPD-Politiker Karl Lauterbach gefällt, nachdem 45.000 Fans beim Achtelfinale im Londoner Wembley-Stadion das Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen England verfolgt hatten. „Das Spiel hat gestern noch mal gezeigt, wie eng die Fans stehen, wie oft sie sich umarmen und anschreien“, schrieb Lauterbach auf seinem Twitter-Account und rechnete grob ein wenig freudvolles Szenario vor: „Es haben sich sicherlich Hunderte infiziert und diese infizieren jetzt wiederum Tausende. Die Uefa ist für den Tod von vielen Menschen verantwortlich.“

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Ob der SPD-Gesundheitsexperte mit seiner These recht behalten wird, ist schwer zu beurteilen. Erst in den kommenden Tagen und Wochen könnte sich anhand von Fallzahlen und Krankenhauseinweisungen ein Trend ablesen lassen. Wie sich die Infektionsdynamik grundsätzlich an den Austragungsorten der Spiele entwickelt – und an den Orten, an die Fans zurückreisen – hängt von mehreren Faktoren ab.

Dass es bereits zu vermehrten Ansteckungen gekommen ist, zeigen schon jetzt erste Kontaktnachverfolgungen von den Gesundheitsämtern in Großbritannien, Finnland und Dänemark. Und dass es bei den noch geplanten großen Spielen zu weiteren Infektionen in der dicht an dicht stehenden Fangemeinde kommen wird – davon gehen Gesundheitsbehörden wie die Weltgesundheitsorganisation sowie Expertinnen und Experten aus Epidemiologie und Virologie ohnehin aus.

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Fußballspiele stehen mit Corona-Ansteckungen im Zusammenhang

Erhobene Daten, auf die man sich bereits jetzt zum konkreten Ansteckungsrisiko in Stadien beziehen könnte, sind rar gesät. Zumal die ersten EM-Spiele, die man unter Pandemiebedingungen genauer untersuchen könnte, zeitlich noch nicht allzu lange zurückliegen. Es gibt zwar Schätzungen zu Corona-Infektionen bei großen Fußballspielen vom Vorjahr. Etwa eine, die davon ausgeht, dass Tausende Ansteckungen in der ersten Corona-Welle in Italien im vergangenen Jahr auf ein Champions-League-Spiel in Bergamo zurückzuführen sind. Vergleichbar mit der Fußball-EM im Juni/Juli 2021 sind solche Datensätze aber nicht.

„Da waren die Rahmenbedingungen noch ganz andere“, erklärt der an der Universität Heidelberg ansässige Mathematiker und Modellierer Jan Fuhrmann. Eine recht neue Schätzung, die sich auf die derzeitigen EM-Wettkämpfe bezieht, haben immerhin bereits die Public-Health-Behörden in Schottland vorgenommen. Sie gehen davon aus, dass rund 2000 der dort zuletzt gefundenen Corona-Fälle direkt oder indirekt auf Reisen von Fans zu den Vorrundenspielen Schottlands in London zurückzuführen sind.

Wenn wir von einer Sensitivität der Tests von 80 Prozent ausgehen, wie sie für viele Antigentests angegeben wird, bliebe noch eine niedrige zweistellige Zahl infektiöser Personen im Stadion übrig.

Jan Fuhrmann,

Mathematiker

„Wenn man bedenkt, dass die Auslastung des Stadions da noch geringer war, erscheint die Schätzung keinesfalls absurd“, sagt dazu Datenkenner Fuhrmann. „Dabei ist natürlich nie klar, ob die Ansteckungen direkt im Stadioninnenraum, beim Einlass, bei der An- und Abreise oder womöglich beim gemeinsamen Bier danach stattgefunden haben.“ Klar sei aber auch, dass bei direktem Anschreien des Gegenübers auch die Tröpfcheninfektion wieder relevant wird und die Flüchtigkeit der Aerosole im Freien nur noch wenig nützt. Wie groß die Ansteckungsgefahr in diesen Situationen aber genau sei, könne auch Fuhrmann aus seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit heraus nicht abschätzen.

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Denn für eine Statistik bräuchte es mehrere schwer zu fassende Parameter. Fuhrmann rechnet vor: Nach Angaben der Johns Hopkins University gibt es laut aktueller Inzidenz in Großbritannien rund 200 Infektionen pro 100.000 Einwohner. Darauf bezogen seien von 40.000 zufällig ausgewählten Personen vermutlich eine hohe zweistellige oder niedrige dreistellige Anzahl aktuell infiziert, eine Zahl, die gegebenenfalls noch um eine gewisse Dunkelziffer erhöht werden müsse.

„Um wie viel diese Anzahl unter den Fans im Stadion durch Tests gesenkt wurde, ist nur schwer abzuschätzen“, so Fuhrmann. „Wenn wir von einer Sensitivität der Tests von 80 Prozent ausgehen, wie sie für viele Antigentests angegeben wird, bliebe noch eine niedrige zweistellige Zahl infektiöser Personen im Stadion übrig.“ Allerdings sei auch dann noch nicht klar, wie ansteckend jene Personen mit falsch negativem Testergebnis wirklich sind.

WHO besorgt über Fußball-EM und Delta-Variante

Die von Lauterbach ins Spiel gebrachten groben Zahlen haben also aus wissenschaftlicher Sicht keine klare Grundlage und gehen ins Spekulative. Die Sorge davor, dass die Kontrolle über die Infektionslage angesichts der großen Events und der Ausbreitung der ansteckenden Delta-Variante aus dem Ruder laufen könnte, bleibt trotzdem – und das nicht nur bei Karl Lauterbach.

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So sprach Bundessportminister Horst Seehofer zuletzt von einem absolut verantwortungslosen Verhalten der Uefa. RKI-Präsident Lothar Wieler betonte mehrfach, dass Zehntausende Fans im Stadion aus infektionsmedizinischer Sicht „keine gute Idee“ seien. Das bestätigte vor wenigen Tagen auch der Virologe Jörg Timm vom Universitätsklinikum Essen. 60.000 Zuschauer und Zuschauerinnen beim Endspiel der Fußball-Europameisterschaft in London seien „natürlich in der jetzigen Phase keine gute Idee“, sagte er dem RND. Timm könne die Entscheidung dafür nicht wirklich nachvollziehen. „Die Pandemie ist noch nicht vorbei, auch wenn wir uns das alle wünschen.“

Solange nicht mindestens 80 Prozent der Bevölkerung geimpft seien, werde es immer wieder zu Ausbrüchen kommen, sagt der Virologe. Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) tragen die großen Turniere zu einer schnelleren Verbreitung der Delta-Variante in Europa bei. „Ja natürlich, wir sind eindeutig besorgt“, sagte diese Woche der WHO-Regionaldirektor für Europa, Hans Kluge, am Donnerstag in Kopenhagen.

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