Lagerkoller wegen des Coronavirus? Was Quarantäne mit Menschen macht
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Die Rückkehrer aus China verbringen nach der Einreise für mindestens zwei Wochen eine Quarantänezeit in der Südpfalz-Kaserne in Germersheim.
© Quelle: Frank Rumpenhorst/dpa
Die 128 Rückkehrer aus der chinesischen Metropole Wuhan verbringen nach der Einreise eine Quarantänezeit von mindestens zwei Wochen in der Südpfalz-Kaserne in Germersheim. Auch 300 Karnevalisten und 1000 Urlauber auf Teneriffa sollen abgeschottet bleiben. Es ist eine Zeit des Wartens und Hoffens, dass bei niemandem der Coronavirus-Test positiv ausfällt. Wie belastend kann so eine Isolierung sein, welche psychologischen Auswirkungen hat die Abschottung von der Außenwelt und wie verhindert man den gefürchteten Lagerkoller?
Dazu gibt die Psychologin Annette Schlipphak, Vizepräsidentin des Berufsverbandes der deutschen Psychologinnen und Psychologen, im RND-Interview eine Einschätzung.
Frau Schlipphak, was bedeutet es psychologisch für Menschen, wenn sie in Quarantäne müssen?
Für die meisten ist diese Situation erst einmal ein Schock. Wenn sie erfahren, dass sie abgeschottet werden müssen, fragen sie sich: Was erwartet mich da eigentlich? Möglicherweise fühlen sich manche auch stigmatisiert. Grundsätzlich lässt sich sagen: Das löst Ängste aus.
Löst es nicht eher Stress aus?
Angst ist ein Urgefühl und Stress eher eine Reaktion des Körpers auf eine bestimmte Situation. Insofern ja, es kann Stress auslösen.
Was meinen Sie damit genau?
Der Mensch hat das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit, nach Zugehörigkeit und Verbundenheit. Wir alle brauchen das Gefühl, Kontrolle über unser Leben zu haben und irgendwohin zu gehören und unseren Kokon zu haben. Geraten diese menschlichen Bedürfnisse ins Wanken, kann dies Unsicherheit auslösen – und Unsicherheit löst oft Ängste aus. Beim Coronavirus kommt hinzu, dass vieles noch nicht vollständig erforscht ist und diese Unwissenheit zu mancherlei Spekulation führt. Das kann die Unsicherheit für die Menschen in Quarantäne noch erhöhen.
Das klingt sehr belastend …
Ob überhaupt und wie belastend eine solche Situation erlebt wird, hängt im Einzelfall auch davon ab, wie psychisch stabil der Einzelne ist. Schwierig kann die Situation etwa für jemanden werden, der vielleicht gerade eine Trennung erlebt hat, oder für jemanden, bei dem eine Erfahrung aus der Vergangenheit aktiviert wird. Dann kann im schlimmsten Fall eine vollständige Isolierung dazu führen, dass Menschen psychische Probleme bekommen, weil sie mit dem Alleinsein nicht fertig werden.
Psychologische Betreuung ist also notwendig?
Aus meiner Sicht ist es extrem wichtig, dass die Menschen nicht allein gelassen werden, dass Ansprechpartner wie Sozialarbeiter und Psychologen für Gespräche vor Ort sind.
Braucht jeder in Quarantäne eine Betreuung?
Das muss nicht sein. Manch einer nimmt diese Situation vielleicht als eine Art Auszeit und sagt sich: Okay, ich gehe mal zwei Wochen auf Abstand zur Welt. Wichtig ist, dass man entweder gut mit sich allein sein kann oder dass man nicht auf sich allein gestellt ist, sondern sich mit anderen austauschen kann.
Manche Menschen schotten sich ja sogar freiwillig ab.
Sicher, es gibt zum Beispiel Menschen, die vier Wochen allein in eine einsame Hütte an einen See gehen. Um das aushalten zu können, muss man wirklich stark sein – und selbst diese freiwillige Entscheidung kann Menschen an Grenzen führen.
Wie kommen Menschen damit klar, wenn der Berufsalltag und das normale Leben in Quarantäne wegfallen, wenn quasi die Struktur fehlt?
Bei vielen tritt dann Langeweile auf, das Gefühl, dass sich die Zeit dehnt. Einige fangen an, herumzudaddeln, fernzusehen, in die Luft zu gucken, vielleicht ganz viel zu essen. Andere wiederum werden nicht lethargisch, sondern aggressiv, und wieder andere haben vielleicht das Gefühl, verlassen worden zu sein. Es ist ganz wichtig, dass diese Menschen einen Tagesrhythmus haben, zum Beispiel durch Mahlzeiten zu festen Uhrzeiten, Aufgaben oder Aktivitäten. Optimal wäre, dass die Menschen auch in Quarantäne in Aufgaben eingebunden sind. Und Sport ist natürlich auch gut.
Das Angebot für eine Spielegruppe am Nachmittag ist also sinnvoll?
Es ist hilfreich und wichtig, mit anderen Menschen in Kontakt zu sein und eine Beschäftigung zu haben, die einen anregt, fordert, Spaß macht. Manche Menschen sind allerdings einfach gut sortiert. Die haben vielleicht ihren Rechner dabei, arbeiten und lesen und können die Situation recht gelassen nehmen. Menschen, denen es grundsätzlich schwerer fällt, sich zu sortieren und für sich selbst zu sorgen, kommen mit fehlender Struktur meist weniger klar. Für die können Beschäftigungsangebote sinnvoll sein.
Verhindert Beschäftigung einen Lagerkoller?
In solchen unfreiwilligen Gruppen ist die Stimmung in den ersten Tagen vermutlich noch okay, aber dann fängt es langsam an, kribbelig zu werden. Es gibt in Gruppen oft einen typischen Verlauf: Am Anfang zeigt sich jeder ein bisschen, dann formt sich die Gruppe, findet ihre Regeln und auch die Rangordnung, wer was zu sagen hat. Oft gibt es eine Phase, in der sich alles konsolidiert hat. Dann aber fängt man an, sich über den einen oder das andere zu ärgern. Dann passt vielleicht einem auch das Essen nicht mehr. Wichtig ist, dass jeder eine Rückzugsmöglichkeit hat. Dass man, soweit es geht, Kontrolle über seine Situation behalten kann. Wenn man aufeinander hockt, ohne sich zurückziehen zu können, kann ein Lagerkoller schneller ausbrechen.
Was lässt sich dagegen tun?
Es braucht ein hohes Maß an gegenseitiger Rücksicht und Toleranz. Man kennt das von Gruppenreisen: Die einen halten das bis zum Schluss ganz gut aus, die anderen müssen sich zwischendurch mal zurückziehen. Die Reaktionen auf eine solche Situation sind so unterschiedlich, wie die Menschen unterschiedlich sind. Darüber hinaus: In Quarantäne braucht es Feingefühl und Geschick auch von Verantwortlichen wie von informellen Chefs einer Gruppe, um die gesamte Situation zu entspannen. Hilfreich ist auch, wenn alle Gruppenmitglieder für sich selbst Verantwortung übernehmen und für sich sorgen. Nur wer für sich selbst sorgen kann, kann auch für andere Verantwortung und Sorge übernehmen.
Schweißt solch ein Erlebnis eine Gruppe zusammen?
Schlimme Erlebnisse – zum Bespiel, wenn Menschen nach einem Lawinenunglück eingeschlossen waren oder ein anderes extremes Ereignis überlebt haben – können durchaus zusammenschweißen. Aber das ist kein Automatismus: Es gibt auch Menschen, die einer schwierigen Situation entkommen sind, die wollen einfach nicht mehr daran erinnert werden.
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Dipl.-Psychologin Annette Schlipphak, geboren 1964, hat Psychologie in Frankfurt/Main studiert. Sie lehrte an der Fachhochschule der Polizei und an einer Fachschule für Krankenpflege und war als Polizeipsychologin tätig. Die Vizepräsidentin des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen arbeitet jetzt in Berlin im Bereich Betriebliches Gesundheitsmanagement.
© Quelle: Thomas Rosenthal