Ist ein strenger Lockdown effektiv gegen Corona? Drei Lehren aus Israel und Melbourne
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Fast vier Monate harte Beschränkungen und stark legitimierter Ausgang: Pandemiealltag im australischen Melbourne.
© Quelle: Getty Images
Am Montag geht Deutschland erneut in den Teil-Lockdown. Aber ist wissenschaftlich überhaupt bewiesen, dass harte Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus effektiv sind? Neben den Erfahrungen in Deutschland aus dem Frühjahr blicken Forschung und Politik auch auf zwei Orte, die bereits einen zweiten harten Lockdown verordnet und durchlebt haben: Israel und die australische Stadt Melbourne.
Harter Lockdown in Melbourne und Israel
Den längsten verordneten Stillstand weltweit hat bislang Melbourne erlebt. Anfang Juli führte die australische Metropole harte Ausgangsbeschränkungen für die Bevölkerung ein, die fast vier Monate andauerten. Jeder Einzelne durfte sich maximal fünf Kilometer vom Wohnort entfernen. Erlaubt waren nur notwendige Arbeitswege, Dienstleistungen, Wege zum Arzt oder zur Schule. Cafés, Bars, Geschäfte, Restaurants blieben dicht. Diese Woche, Ende Oktober, gab es erste Lockerungen. Bewegung im Umkreis von 25 Kilometer ist inzwischen beispielsweise wieder zulässig.
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Auch Israel verordnete Mitte September einen bis Ende Oktober geltenden sehr harten Lockdown: Die Leute durften ihre Wohnungen nur zu beruflichen Zwecken, zum Einkaufen oder für Arztbesuche verlassen. Auch die Schulen sind geschlossen worden. Nun folgen Lockerungen nach einem Stufensystem: Am Freitag beschloss die Regierung die Öffnung der Grundschulen für die erste bis vierte Klasse, allerdings unter Einschränkungen. Von Sonntag an dürfen auch Ferienwohnungen wieder geöffnet werden. In Gebetshäusern können sich bis zu zehn Menschen versammeln und draußen bis zu 20. Auch Friseur- und Kosmetiksalons dürfen wieder einzelne Kunden empfangen.
Lockdown-Lehre 1: Lieber früh eingreifen
Wir wissen aus dem Frühjahr und dem zweiten Lockdown in Israel und Australien, dass sich die Fallzahlen bei strikten Beschränkungen pro Woche in etwa halbieren.
Viola Priesemann, Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation
Die Anstrengungen zeigen Erfolg. So verzeichnete das israelische Gesundheitsministerium am Freitag 630 neue Corona-Fälle. Zum Vergleich: Vor einem Monat waren es noch mehr als 9000 am Tag gewesen. Auch die Zahl der Schwerkranken sank binnen eines Monats um die Hälfte, auf 410. Der Anteil der positiven Tests war mit 1,8 Prozent deutlich geringer als vor und während des Lockdowns. Im September hatte er noch im zweistelligen Bereich gelegen. Und die Stadt Melbourne verzeichnete am Montag zum ersten Mal seit dem 9. Juni gar keine Neuinfektion, hat das Infektionsgeschehen also deutlich gedrückt. Die neu registrierten Fälle der letzten Tage bewegen sich nur noch im maximal zweistelligen Bereich.
„Wir wissen aus dem Frühjahr und dem zweiten Lockdown in Israel und Australien, dass sich die Fallzahlen bei strikten Beschränkungen pro Woche in etwa halbieren“, erklärt Viola Priesemann, Physikerin und Pandemiemodelliererin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. Deshalb sei auch frühes Eingreifen effektiver: Je länger bei einsetzendem exponentiellem Wachstum auf den harten Lockdown verzichtet wird, desto länger müssen die Maßnahmen unter Umständen andauern. Befinden sich die Fallzahlen leicht oberhalb der Grenze von 50 auf 100.000 Einwohner, reichten zwei bis drei Wochen, um wieder in den stabilen Bereich zu kommen – und auch länger auf diesem Niveau zu bleiben.
Lockdown-Lehre 2: Lieber harte Maßnahmen – sonst verpufft Wirkung
Je mehr Maßnahmen gleichzeitig umgesetzt werden, umso kürzer ist die Zeitspanne, wie lang ein Lockdown sein muss.
Anita Schöbel, Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Techno- und Wirtschaftsmathematik
Der Blick auf diese Länder zeigt, dass nicht nur der Zeitpunkt entscheidend ist, sondern auch die Härte der verordneten Maßnahmen, erklärt Anita Schöbel, Leiterin am Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik. Denn Lockdown ist nicht gleich Lockdown. „Je mehr Maßnahmen gleichzeitig umgesetzt werden, umso kürzer ist die Zeitspanne, wie lang ein Lockdown sein muss.“
Das zeige das Beispiel Israel deutlich. Dort gab es im Mai plötzlich eine sehr hohe Inzidenz. Die Regierung verordnete den sehr harten Lockdown. Zehn Tage lang sind die Zahlen dann wegen der Inkubationszeit nach Infektionen zwar noch hochgegangen. Danach aber hat sich gezeigt: Pro Woche haben sich die Fallzahlen halbiert. „Werden nur einzelne Maßnahmen ergriffen, wird sich nur langsam etwas ändern – und womöglich ohne Erfolg", sagt Schöbel.
Lockdown-Lehre 3: Menschen zahlen einen hohen Preis
Wir wissen aber auch, dass komplette Lockdowns die Nachfrage nach psychischer Gesundheitsfürsorge steigern und zu einem Anstieg der häuslichen Gewalt führen werden.
WHO-Regionaldirektor Hans Kluge
Ein Lockdown hat aber auch einen Preis. Unfrieden zeigte sich diese Woche beispielsweise in Melbourne, wo Hunderte Menschen gegen die strikten Ausgangsbeschränkungen demonstrierten. Das Europa-Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) betont, dass auch soziale Folgen einbezogen werden müssten. Zwar wisse man, dass strikte Beschränkungen wie Anfang des Jahres die Übertragung von Krankheitserregern einschränken und dem Gesundheitssystem den dringend benötigten Raum zur Erholung gebe, sagte WHO-Regionaldirektor Hans Kluge am Donnerstag in Kopenhagen. „Wir wissen aber auch, dass komplette Lockdowns die Nachfrage nach psychischer Gesundheitsfürsorge steigern und zu einem Anstieg der häuslichen Gewalt führen werden.“
Zudem würden weniger chronisch Kranke in Krankenhäuser gehen, was zu vorzeitigen Todesfällen führen würde. Darüber hinaus hätten die indirekten Auswirkungen eines Lockdowns negative Folgen für die Wirtschaft, Menschen würden in finanzielle Notlagen kommen. „Angesichts dieser Realitäten erachten wir nationale Lockdowns als letzte Möglichkeit.“