Innovation im Corona-Jahr: Die Not hat uns ziemlich erfinderisch gemacht
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Eine Dosis des Covid-19 Impfstoffes von Biontech/Pfizer steht in einem Impfzentrum.
© Quelle: Marijan Murat/dpa
Die einen können Leben retten, andere sind zumindest nützlich – und über manche muss man einfach nur schmunzeln: Erfindungen haben seit Ausbruch der Corona-Pandemie Hochkonjunktur. Ob Formeln für Impfstoffe, keimtötende Oberflächen oder Masken mit eingebauter Heizung – das Spektrum der Innovationen ist riesig und die Welle neuer Ideen zur Bekämpfung des Virus reißt nicht ab. „Wir sind der festen Überzeugung, dass die Innovationstätigkeit maßgeblich zum Aufschwung Europas nach der Corona-Krise beitragen wird“, erklärt der Präsident des Europäischen Patentamts (EPA) António Campinos hoffnungsvoll. Auch für das kommende Jahr rechnet das EPA mit einer neuen Welle von Patentanträgen im Kampf gegen das Coronavirus.
Die bedeutendste Erfindung des Jahres ist zweifellos der Impfstoff gegen das Coronavirus: Noch nie zuvor wurde ein Impfmittel mit solchem Hochdruck entwickelt, getestet und zugelassen. Mehr als ein Dutzend Unternehmen der Medizinforschung sind weltweit angetreten, um in Reagenzgläsern, unter Hightech-Mikroskopen und mithilfe von Datenanalysen die Lösung für eine der größten Geißeln der Menschheit zu finden. In Deutschland ging die Mainzer Firma Biontech im Rennen um die heiß ersehnte Formel als erste durch die Ziellinie und erhielt kurz vor Weihnachten die Zulassung für ihren mRNA-basierten Impfstoff mit dem kryptischen Namen BNT162b2, der in Kooperation mit dem US-Konzern Pfizer entwickelt wurde.
RNA steht für Ribonukleinsäure – eine mikrobiologische Verbindung aus sogenannten Nukleotiden, die in der Lage sind, genetische Botschaften in Proteine zu verwandeln. Eine Weltpremiere: Der Impfstoff enthält nicht, wie sonst üblich, abgetötete oder gar aktive Viren, sondern lediglich einen genetischen Baustein aus der äußeren Hülle des Coronavirus, mit dessen Hilfe unsere Körperzellen zur Produktion von Antikörpern angeregt werden sollen. Ein Erfolg, längst haben auch in Deutschland zahlreiche Menschen den nachweislich wirksam Impfstoff von Biontech erhalten.
Nachtschichten im Labor
Dabei war Biontech-Vorstand Ugur Sahin früh klar, dass Corona kein Kinderspiel werden würde: „Experten mit Erfahrung in derartigen Infektionsentwicklungen meinen, dass so etwas kommt und geht. Ich sage: Diesmal ist es anders“, betonte der Forscher bereits bei Ausbruch der Pandemie gegenüber der „Financial Times“. Mit seiner Frau Özlem Türeci und einem 400-köpfigen Team nahm Sahin die Herausforderung an. Monatelang brannten die Lichter in den Laboren des Mainzer Unternehmens auch nachts und an den Wochenenden. Allein waren sie damit nicht und auch anderswo hat sich das Engagement ausgezahlt: Weitere Impfstoffe anderer Hersteller haben ebenfalls eine Zulassung erhalten oder können mit ihr in Bälde rechnen.
Außer neuartigen Impfstoffen, Virentests oder Medikamenten beschäftigte in den letzten Monaten auch die Entwicklung medizintechnischer Geräte viele Erfinder rund um den Globus. Am Anfang fehlte es nicht selten an geeigneter Ausrüstung zur Behandlung von Covid-19-Patienten. Schnell fanden sich Unternehmen, die sich auf die Herstellung mit Hilfe von 3-D-Druckern verstehen, in Netzwerken zusammen: Millionen benötigter Teile – etwa für klinische Gesichtsvisiere oder Beatmungsgeräte – wurden auf diese Weise mit der noch jungen 3-D-Drucktechnik hergestellt, die laut Europäischem Patentamt seither zu einem der bedeutendsten Industriezweige der Welt avancierte.
Aus Tauchausstattung wurden Beatmungsgeräte
Vielerorts war zudem purer Improvisationsgeist gefragt: So wurden in Italien kurzerhand Schnorchelmasken aus dem Tauchsportbedarf für die künstliche Beatmung umgerüstet. In einigen afrikanischen Ländern kamen dagegen improvisierte „Beatmungsballons“ zum Einsatz, die in einem schlichten Holzgestell montiert wurden und ebenfalls Leben retteten. Ferngesteuerte „Robotertische“ mit Rädern aus alten Kinderwagen versorgten hochinfektiöse Patienten mit Nahrung und Medikamenten.
Doch während zu Beginn der Pandemie vor allem praktische Lösungen für die Routinen auf der Intensivstation gefragt waren, werden die Therapien für Schwerkranke inzwischen zunehmend von künstlicher Intelligenz (KI) unterstützt: Aus dem Silicon Valley etwa stammt eine KI-basierte Software, die es auch wenig geschultem Klinikpersonal ermöglicht, Ultraschalluntersuchungen am Herzen von Covid-Erkrankten vorzunehmen. Und in Europa vernetzen sich derzeit Kliniken aus 13 Ländern über Quantencomputer, die quasi in Echtzeit sämtliche medizinischen Daten vom Krankenbett Tausender angeschlossener Intensivpatienten analysieren – und daraufhin die optimale Therapie für jeden einzelnen vorschlagen können.
Die Intensivmedizin wird mobil
Auch die Mobilität der Intensivmedizin wurde im Jahr 2020 weiter vorangebracht: Ein Konzept des Fraunhofer Instituts sieht zum Beispiel rollende Intensivstationen mit flexibler medizintechnischer Ausstattung auf Lkw-Ladern vor, die bei Bedarf schnell in entlegene Gebiete gebracht werden können. Und die Bundeswehr will ihre bereits mit intensivmedizinischer Technik ausgestatteten drei Airbusse durch eine Art „fliegendes Patientenzimmer“ ergänzen: „Uns schwebt ein isolierter Container vor, der bereits komplett mit Intensivbett, erforderlicher Technik sowie einer Personalschleuse ausgestattet ist und quasi am Stück durch die Ladeluke in jeden Lufttransporter geschoben werden kann“, erklärt der Inspekteur des Bundeswehr-Sanitätsdienstes Ulrich Baumgärtner. Die Miniintensivstation, die jederzeit an jedem Ort der Welt verfügbar sein soll, ist ein Gemeinschaftsprojekt mehrerer europäischer Länder.
Nicht nur in der Medizinforschung sorgt Corona für wahre Quantensprünge: Auch im Alltag halten viele brauchbare Ideen Einzug, die – über die aktuelle Pandemie hinaus – das Leben erleichtern und sicherer machen könnten. Beispiel Desinfektion: Von der „Rotlicht-Desinfektionsdusche“ für Pakete (Fraunhofer Institut Bremen) über desinfizierende Lacke an Handläufen von öffentlichen Aufgängen und Rolltreppen (Deutsche Bahn) bis hin zu antiviralem Biospray aus einer Nürnberger Brauerei oder selbst desinfizierenden Folien reicht das Spektrum der zahlreichen „Saubermacher“ unter den Erfindungen. Auch Luftbefeuchter mit feinem Desinfektionsnebel haben unterdessen Marktreife erlangt.
Belüftungssysteme der Marke Eigenbau
Ähnlich umtriebig zeigen sich die Erfinder von Belüftungslösungen. Da der Luftaustausch in Innenräumen mithilfe herkömmlicher Klimaanlagen relativ kostspielig ist, fanden Tüftler gleich mehrere erschwingliche Lösungen: Das Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz stellte eine Bauanleitung ins Netz, mit der sich Schulklassen im DIY-Verfahren selbst eine Abzugsanlage für Aerosole basteln können, um die möglicherweise virenbelasteten Schwebstoffe vom Unterricht fernzuhalten. Mehrere hundert Schulen haben das Konzept bereits aufgegriffen, das sich den thermischen Auftrieb von Körperwärme zunutze macht.
Eine professionelle Lösung wurde vom Göttinger Physiker Eberhard Bodenschatz entwickelt, dessen Max-Planck-Institut für Dynamik und Fluidforschung zuvor umfangreiche Aerosolstudien durchgeführt hat: Die mobile „Luftwaschmaschine“ mit austauschbaren Filtereinsätzen ist ähnlich effizient wie die bereits erhältlichen Hepa-Luftreiniger. Doch im Unterschied zu teuren H14-Filtern, die bislang für die mobile Luftreinigung genutzt werden, kommt die Göttinger Konzeptstudie mit Feinfiltern der Klasse F9 aus, die deutlich preisgünstiger sind.
Codezeilen gegen das Coronavirus
Auch durch digitale Lösungen könnte das Coronavirus im Alltag allmählich seinen Schrecken verlieren. Den Anfang machte die Corona-Warn-App der Bundesregierung, die im Sommer von einem Team um IT-Genie Martin Fassunge ersonnen wurde. Die besten Ideen für die Umsetzung der vielfältigen Anforderungen an Funktion und Datenschutz der neuartigen App kamen dem langjährigen SAP-Entwickler dabei in seinem kleinen Campingwagen am Rande des Schwarzwalds.
Bei Rapper Smudo von den „Fantastischen Vier“ waren es eher die Erfahrungen als Künstler, die ihn zur Mitwirkung an einer Veranstaltungs-App namens „Luca“ inspirierte: Konzerthallen, Theatern oder Restaurants sollen dadurch die Erstellung von Besucherlisten erleichtert werden, sagte Smudo in einem Interview mit „T-online“. Treten Infektionen auf, wären die Gesundheitsämter demnach mit „Luca“ in der Lage, Kontakte schneller als bisher nachzuverfolgen und Betroffene zu informieren.
Damit es gar nicht erst zu einer Infektion mit dem Coronavirus kommt, ersannen junge Forscher in Zusammenarbeit mit der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe eine App namens „Protego“, deren Nutzer sich mit einem Warnton auf Abstand halten können. Und mehrere Forschungsinstitute entwickelten webbasierte Anwendungen, mit deren Hilfe sich die Ansteckungsgefahr in Innenräumen vorausberechnen lässt – darunter die TU Berlin sowie Institute der Max-Planck-Gesellschaft in Mainz und Göttingen.
Die Maske ist längst mehr als ein Stück Stoff
Last not least füllen mittlerweile zahllose innovative Gadgets im Zusammenhang mit Corona Ladenregale und Webshops – allen voran Masken, die mehr können als nur Viren abhalten. Das Spektrum reicht von selbst reinigenden Textilien über austauschbare Filtereinsätze bis hin zur integrierten Heiz- und Belüftungsfunktion. Wer nicht weiß, wohin er seine Maske bei Nichtgebrauch stecken soll, freut sich über kleine Helfer wie das „Maskegg“: Die Hamburger Freizeiterfinderin Tasja Jauns will durch die eiförmige Silikonhülle mit dem alltäglichen Maskenchaos in der Handtasche aufräumen.
Aus dem Sauerland stammt die Idee einer Türklinke, die – ähnlich einem Fahrradpedal – mit dem Fuß betätigt wird. Wer trotzdem nicht aufs Händewaschen verzichten will, freut sich über einen Farbstoff namens „Soapi Coach“, der anzeigt, wo sich zwischen den Fingern noch Viren befinden könnten. Und ein Kühlschrankhersteller bietet für alle, die sich in Zeiten von Corona besonders gesund ernähren wollen, ein Obst- und Gemüsefach mit Spezialbeleuchtung an: Durch die Simulation von Sonnenaufgang, Mittags- und Abendsonne sollen die Vitamine in Bananen oder Brokkoli länger vital bleiben.