„Infekte gehören zum Leben dazu“: Experte fordert, Kinder nicht weiter abzuschirmen
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Atemwegserkrankungen bei Kindern nehmen als Spätfolge der Corona-Maßnahmen zu. Ihrem Immunsystem fehlt die Auseinandersetzung mit Krankheitserregern in der Umgebung.
© Quelle: imago images/Westend61
Deutlich mehr Kinder als sonst erkranken derzeit an Atemwegsinfekten. Einige Kinderkliniken in Deutschland sind bereits überlastet. Der Grund: Wegen der Corona-Maßnahmen fehlte der natürliche Kontakt mit Krankheitserregern in der Umgebung, das Immunsystem der Kleinsten wurde dadurch geschwächt. Ein Experte erklärt, was für die nächsten Monate zu erwarten ist und warum ein weiteres Abschirmen der Kinder nicht die Lösung sein kann.
Tobias Tenenbaum ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI). In den Kinderkrankenhäusern könne es durchaus zu weiteren Engpässen kommen, sagt der Professor: „Die Situation ist tatsächlich jetzt schon dramatisch und wir wissen noch nicht, wie sie sich weiter entwickeln wird.“ Schon jetzt, zu Beginn des Herbstes, gebe es ähnlich viele Infektionen wie sonst erst im Winter.
Auf den Kinderstationen müssten dabei ja nicht nur Atemwegsinfekte behandelt werden, die zuletzt stark zugenommen hatten. Sondern unter anderem auch viele Kinder mit Magen-Darm-Leiden oder chronischen Krankheiten wie etwa Diabetes. Während der Pandemie seien weniger Behandlungen in Anspruch genommen worden als sonst üblich, diese würden jetzt nachgeholt. Einige kleine Patienten und Patientinnen seien in dieser Phase nur ambulant versorgt worden, befänden sich aber schon länger in der Warteschleife für einen Klinikplatz.
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Tobias Tenenbaum, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI).
© Quelle: Privat
Für die Zunahme bei den Atemwegserkrankungen sei momentan zu einem guten Anteil das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV) verantwortlich, auch wenn exakte Zahlen fehlen würden, sagt Tenenbaum. Er befürchtet, dass im Winter vermehrt Grippefälle hinzukommen könnten, bevor die Welle der RSV-Infektionen abgeflacht ist: „Die Dynamik lässt sich derzeit aber nur schwer vorhersagen.“
Im Unterschied zum Coronavirus ist das RS-Virus vor allem für Kinder gefährlich. Der Erreger gehört zu den häufigsten Auslösern von akuten Atemwegsinfektionen bei Säuglingen und Kleinkindern. In den meisten Fällen lässt sich eine Erkrankung gut behandeln, es sind aber auch schwere Verläufe und Todesfälle möglich. Nach Angaben des RKI ist bei Kindern im ersten Lebensjahr normalerweise mit etwa 5,6 schweren Verläufen auf 1000 Kinder zu rechnen. Nur bei 0,2 Prozent der Kinder, die deshalb im Krankenhaus behandelt werden müssen, verläuft die Erkrankung tödlich. Stärker gefährdet sind Frühgeborene mit Herz- oder Lungenerkrankungen. Für sie ist allerdings eine Prophylaxe verfügbar.
Kindern fehlt Boostereffekt durch Kontakt mit Viren
Tenenbaum erklärt, warum die Corona-Maßnahmen zu einer Zunahme der RSV-Infektionen geführt haben. „Für das RS-Virus wie auch für viele andere Viren gilt: Je früher Infekte durchgemacht werden, desto eher wird eine Basisimmunität erworben. Ein zweiter Infekt verläuft dann in der Regel milder.“ Durch die Corona-Maßnahmen seien Kinder fast zwei Jahre lang kaum mit Krankheitserregern in Kontakt gekommen. „Nun erkrankt daher eine größere Menge an Kindern gleichzeitig das erste Mal, wobei die Symptome meist stärker ausgeprägt sind.“
Dazu komme ein weiteres Problem, erklärt Tenenbaum: Bei etwas älteren Kinder, die bereits einen ersten Infekt mit dem RS-Virus durchgemacht haben, wirke der regelmäßige Kontakt mit dem Erreger normalerweise wie ein Booster, der ihren Immunschutz immer wieder verlängert. Sie erkranken zwar nicht mehr schwer, trainieren aber durch die Infekte ihr Abwehrsystem. Nach zwei Jahren fast ohne Kontakt zu Krankheitserregern ist der Immunschutz nun aber so weit abgeschwächt, dass diese Kinder nicht mehr alle geschützt sind.
„Ähnliche Effekte waren bereits in anderen Ländern beobachtet worden, deshalb waren wir vorbereitet“, sagt Tenenbaum. Die DGPI habe sich daher zusammen mit anderen Fachgesellschaften dafür eingesetzt, dass eine Prophylaxe gegen das RS-Virus schon im Herbst statt wie sonst üblich im Winter eingesetzt werden kann und mehrere Dosen davon als sonst üblich durch die Krankenkassen erstattet werden können.
Infekte gehören zum Leben dazu
Eine Impfung gegen das RS-Virus gibt es nicht. Für Kinder, die besonders früh geboren wurden oder Frühgeborene mit weiteren Risikofaktoren empfehlen Leitlinien aber die vorbeugende Behandlung mit monoklonalen Antikörpern. Diese soll die mütterlichen Antikörper ersetzen, die vielen Frühgeborenen fehlen und dadurch den Immunschutz verbessern.
Das weitere Aufrechterhalten strenger Hygienemaßnahmen empfiehlt Tenenbaum hingegen nicht. „Dadurch würde das Problem ja nicht gelöst, sondern nur weiter aufgeschoben“, sagt der Professor. Weil der Immunschutz bei Kindern dadurch weiter abnehmen würde, sei dann in den kommenden Jahren nur mit noch mehr Erkrankungen zu rechnen.
Nach der langen Zeit des Lockdowns und der Abschirmung vieler Kinder sei nun wieder ein Umdenken gefragt: „Infektionen gehören zum Leben dazu. Und man muss sich wieder bewusst machen, dass wir dies nicht ausklammern können. Wir können nicht verhindern, im Alltag gewisse Risiken einzugehen, wie ja zum Beispiel beim Autofahren auch. Und das Risiko für die Kinder ist ja zum Glück trotz allem gering.“