Social-Media-Content kritischer betrachten

Thinstagram: Können soziale Netz­werke Ess­störungen beeinflussen?

Voll mit dabei oder nur am Rande? Hier macht sich eine Frau vor einem Laptop für ihren Yogakurs warm, der via Videokonferenz stattfindet.

Rezepte, Work-outs, Essens­pläne: Fitness­influencerinnen haben für jede Lebens­frage eine Antwort – für junge Menschen eine große Gefahr, warnen Fachleute.

Als Lea (Name geändert) aufhörte, Zucker zu essen, war sie 14 Jahre alt. In der Schule hatte sie gelernt, was die süße Nahrung mit ihrem Körper machen konnte und entschied sich, von nun an darauf zu verzichten. Sie aß keine Süßigkeiten mehr, dann ließ sie auch andere Dinge weg, in denen sie Zucker vermutete. Sie fing an, Fitness­influencerinnen zu folgen, turnte die Sport­einheiten nach, die sie ihr vorlebten. Ihr Ernährungs­plan wurde strenger, die Sport­einheiten härter.

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Als 2020 durch den ersten Lock­down die alltäglichen Strukturen weg­brachen, intensivierte sie ihr Training und kochte sich ihr Essen lieber selbst, statt mit der Familie zu essen. „Damals ging das alles noch“, beschreibt Lea diese Zeit. Im vergangenen Jahr ging es dann nicht mehr. Ihrem Vater fiel die immer lockerer sitzende Sporthose auf, eine Lehrerin sprach sie auf ihren abgemagerten Körper an.

Eine Therapie wollte Lea da noch nicht machen, sie wollte es selber hinkriegen. „Ich hab mir den Sommer über jeden Tag vorgenommen mehr zu essen und weniger zu trainieren, aber hab es am Ende nie geschafft“, sagt Lea. Nach den Sommer­ferien habe sie einer Lehrerin gesagt, dass sie Hilfe brauche. Ende September wurde sie stationär in der Klinik für Psychiatrie, Psycho­somatik und Psycho­therapie des Kindes- und Jugend­alters in Aachen aufgenommen. Diagnose: Anorexia nervosa, Mager­sucht.

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Die Fitness­ideologie

Lea ist kein Einzel­fall, weiß die Direktorin für Kinder- und Jugend­psychiatrie Beate Herpertz-Dahlmann. „Wir haben einige Patientinnen hier in Aachen, die sich Fitness­influencerinnen zum Vorbild genommen und dann die Kontrolle verloren haben.“ Besonders gefährlich sei es, wenn die digitalen Idole eine ganze Lebens­welt mit Rezepten, Essens­plänen und Work-outs präsentieren. „Das ist nicht nur Fitness, das ist Lebens­beratung“, so Herpertz-Dahlmann. „Wie eine Ideologie.“ Erwachsene könnten sich eher von überinszenierten Angeboten der Influencer und Influencerinnen distanzieren, jungen Menschen falle das aber wahnsinnig schwer.

Dass das so ist, liegt auch an der besonderen Nähe, die auf sozialen Netz­werken suggeriert wird. „Wenn man seinen Idolen auf sozialen Netz­werken folgt, ist man dabei unglaublich dicht dran: Man schaut zu, wie sie aufstehen, was sie frühstücken und, wie sie ihren Tag verbringen. Das erzeugt eine große Authentizität und Glaub­würdigkeit“, weiß Medien­pädagogin Iren Schulz von der Ratgeber­initiative „Schau hin!“. „Man vergemeinschaftet sich über Hashtags und Challenges und findet eine Community. Das potenziert den Einfluss des Contents noch mal.“ Ein gezeigtes Interesse – etwa für gesunde Ernährung – werde so direkt verstärkt und extremisiert. „Es gibt kaum sichtbaren Platz für Relativierungen auf sozialen Platt­formen. Das ist sehr gefährlich“, warnt Schulz.

Hadern mit der Krankheit

Auch Lea orientierte sich gerne an den Plänen einer bekannten Fitness­influencerin. „Mir hat es einfach auch viel Spaß gemacht diese Work-outs zu machen oder mein Essen so herzurichten wie sie. Ich fand es so schön, wie viel Freude sie dabei verbreitet hat“, sagt die 17-Jährige. „Das hat mich total in den Bann gezogen.“ Dünner werden wollte sie gar nicht unbedingt, nur „definierter“. „Es war mir immer sehr wichtig, dass man meine Bauch­muskeln sieht.“ Das habe ja auch tatsächlich funktioniert. „Ich habe mich mit dem Training und den Essens­plänen lange sehr wohl­gefühlt und gedacht, dass das gut für mich ist“, sagt sie. „Mir hat es gefallen, wie sich mein Körper verändert hat.“ Und auch als sie Teile ihres Körper nicht mehr so schön fand, habe sie sich nicht dazu durchringen können, etwas zu verändern. „Einerseits wollte ich etwas ändern, andererseits aber auch nicht.“

Das ist aus Sicht von Silja Vocks kaum überraschend: „Es gibt wenig Störungen, bei denen die Betroffenen den Symptomen ihrer Erkrankung so ambivalent gegenüber­stehen“, so die Psychologie­professorin der Universität Osnabrück. „Viele bekommen wegen der Gewichts­abnahme viele Komplimente und haben dazu eine effektive Emotions­regulations­strategie. Das heißt, sie können durch die Ess­anfälle oder das Fasten besser mit negativen Gefühlen wie Traurigkeit umgehen.“ Negative Folgen der Erkrankung würden entweder nicht gesehen oder verleugnet.

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Der Einfluss der Platt­formen

Der Einfluss der sozialen Platt­formen auf die mentale Gesundheit und das Selbst­bild wird seit einigen Jahren kritischer untersucht und diskutiert. Von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) heißt es etwa, soziale Netz­werke könnten die Entwicklung einer Ess­störung fördern. „Einige Influencerinnen und Influencer kommunizieren im Netz ihr persönliches Ideal von einem schönen Körper, einer gesunden Ernährung oder guter Fitness und bringen Follower dazu, ihr Ess­verhalten zu ändern und für eine ‚perfekte‘ Körper­form zu trainieren“, so die BZgA. „Dabei vergessen Follower häufig, dass viele Aktivitäten geschönt dargestellt werden. Fotos oder Videos lassen sich heutzutage leicht bearbeiten und zeigen eine Welt fernab der Realität.“ Und besonders junge Menschen gelten als anfällig für die algorithmisch unterstützte Sog­wirkung sozialer Platt­formen.

Auch Psychologie­professorin Vocks sagt: „Die Betroffenen von Ess­störungen werden immer jünger. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass soziale Medien eine Rolle spielen. Denn der gesellschaftliche Schlankheits­druck findet jetzt nicht nur auf Plakaten oder im Fernsehen statt, sondern diffundiert durch soziale Medien auch in das Zuhause der Kinder.“ Außerdem gebe es erste Studien­ergebnisse, die nahe­legen, dass soziale Netz­werke körper­bezogene Sorgen antreiben.

Ein Problem sei dabei in erster Linie der Reflex zum Vergleich, den junge Menschen bereit­williger ziehen als Erwachsene, weil sie nach Orientierung suchen. „Soziale Vergleichs­prozesse sind meist aufwärts gerichtet. Man vergleicht sich mit Menschen, die wesentlich besser abschneiden“, so Vocks. „Das ist natürlich sehr toxisch in Bezug auf gestörtes Ess­verhalten und überinszenierte Körper in sozialen Netz­werken.“ Phänomene wie Bodypositivity oder -neutrality, bei denen vermeintliche Makel gezeigt werden, erreiche die Jüngeren gar nicht und wären darüber hinaus ebenfalls problematisch, weil der Körper weiter ein Bewertungs­objekt bleibe.

Werkzeug­koffer für kritischen Konsum

Eltern rät Medien­pädagogin Iren Schulz, sich gut zu überlegen, wann ihr Kind auf sozialen Netz­werken aktiv sein darf. „Das Wichtigste ist, jungen Menschen einen Werkzeug­koffer an die Hand zu geben, mit dem sie die Inszenierung in sozialen Netz­werken durch­schauen können“, so Schulz. „Man kann einer Heidi Klum ja folgen, aber man muss sich kritisch dazu verhalten können. Sehr junge Kinder können das aber häufig noch nicht.“ Kinder, die mit sicheren Bindungen aufwüchsen und stabile soziale Fundamente hätten, würden in der Regel eine bessere Distanz zu den Inhalten auf sozialen Platt­formen aufbauen können.

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Dafür zu sorgen, dass sich Kinder und Jugendliche einiger­maßen gesund in den sozialen Medien bewegen könnten, wäre aber nicht nur Aufgabe der Eltern. „Die Platt­formen müssen viel mehr in die Verantwortung genommen werden“, so Schulz. „Hervor­stehende Rippen und Becken­knochen sind nur ein Beispiel von vielen problematischen Visualisierungen. Es ist unvorstellbar, welcher Content nicht gelöscht wird.“

Die Whistle­blowerin Frances Haugen hatte Instagram ebenfalls kritisiert, als sie im vergangenen Herbst die Facebook Files veröffentlichte: Auf Instagram gehe es nur darum, Lebens­entwürfe und Körper zu vergleichen, sagte sie dem ZDF. Meta wisse längst aus internen Studien, dass junge Frauen so zu Extremen wie Mager­sucht verleitet werden könnten, und unternehme nichts dagegen. NDR, WDR und „Süddeutsche Zeitung“ wiesen vor wenigen Wochen nach, dass sogenannte „Mager­coaches“ auf Instagram Jugendliche zu extremen Handlungen drängen. Vom Melde­dienst wurden die Profile allerdings nicht entfernt, weil sie nicht von außen erkennbar seien, berichtet die „Tagesschau“. Wer auf Instagram nach einschlägigen Hashtags sucht, dem werden mehrere Hinweise mit Links zu „hilfreichen Ressourcen“ zum Thema Körper­wahrnehmung vorgeschlagen. Wer zweimal auf „Ergebnisse ansehen“ klickt, sieht die Bilder trotzdem.

Algorithmen schwer einsehbar

Ein weiteres Problem sei, dass niemand so genau wisse, wie der Newsfeed in sozialen Netz­werken eigentlich funktioniere. „Es gibt zwar hier und da mal Einblicke – und die Facebook Papers gehören dabei zu den sehr weit­gehenden und wert­vollen Einblicken – aber vieles davon kratzt doch nur an der Ober­fläche. Bis zu einem gewissen Grad bleiben die Algorithmen der sozialen Platt­formen Black­boxes“, sagt Angela Müller von Algorithm Watch. Der Einfluss der Nutzerinnen und Nutzern sei begrenzt. „Es braucht viel mehr Einblick, Transparenz und Aufklärung, um als Individuen und als Gesellschaft selbstbestimmt mit Online­plattformen umgehen zu können.“

Was man aber machen kann, ist, sich kritisch mit dem Content auseinander­zusetzen. Das weiß auch Lea heute: „Man sollte nicht direkt alles übernehmen, was einem Influencerinnen zeigen und sagen. Jeder ist anders und hat einen anderen Fokus“, sagt sie. „Das hätte ich gerne schon früher gewusst.“ Aber ganz durch ist sie noch nicht, die Ambivalenz bleibt. „Ich habe jetzt die ganze Zeit keinen Sport gemacht. Es fällt mir schwer, das zu akzeptieren, weil mir ein definierter Körper schon sehr wichtig ist. Und so, wie es jetzt ist, fühle ich mich auch nicht wohl.“

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Manchmal gehe es ihr schlechter, manchmal besser. In wenigen Tagen wird sie entlassen: „Ich denke, es ist ein Prozess. Aber leicht ist es nicht“, sagt sie. „Ich habe hier gelernt, dass es für mich auch okay wäre, Süßes zu essen, mir mal was zu gönnen. Aber ich weiß nicht, ob ich mich schon dafür entschieden habe, das zu ändern.“

Sind Sie selbst oder jemand, den Sie kennen, betroffen? Hier finden Sie hilfreiche Informationen zum Thema Ess­störungen und Medien­konsum:

  • Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) stellt hier Infos zu Beratung und Behandlung von Ess­störungen zur Verfügung.
  • Was sind die Symptome einer Essstörung? Was kann ich tun, wenn ich betroffen bin? Hier informiert das Bundes­ministerium für Gesundheit über Ess­störungen.
  • Die Ratgeber­initiative „Schau hin!“ für Familien informiert hier über neue Trends, Entwicklungen und Wissenswertes über soziale Netzwerke und Co.

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