Klinikchef zur Lage des Gesundheitssystems: „Pflege ist ein Thema von nationaler Tragweite“
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Rettungsflug für schwerverletzte Zivilisten aus der Ukraine. Kriegsverletzte werden über Hilfsinitiativen oder direkt über das sogenannte Kleeblatt-System ausgeflogen. „Im Moment“, so Prof. Werner, „ist das sehr geordnet, klassischer Medizinalverkehr“.
© Quelle: IMAGO/Reichwein
Der Fachmann für die Digitalisierung des medizinischen Apparats, Jochen A. Werner, ist gelernter HNO-Arzt mit dem Schwerpunkt Krebserkrankungen von Mundhöhle, Rachen und Kehlkopf. Seit 2015 steht der 63-Jährige dem Universitätsklinikum Essen als ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender vor, zuvor war er ärztlicher Geschäftsführer der Universitätsklinikum Gießen und Marburg GmbH.
Herr Werner, wie geht es Ihrem Klinikum? Wie ist die Lage aktuell?
Prof. Jochen A. Werner: Wir haben natürlich immer noch mit der Pandemie zu tun. Stand 26. April hatten wir insgesamt 61 positiv auf Sars CoV2 getestete Patienten stationär bei uns, davon 16 auf Intensivstationen. Von diesen sind vielleicht 35 bis 40 Prozent manifest an Covid 19 erkrankt. Die restlichen Diagnosen sind Zufallsbefunde oder Nebendiagnosen bei Patienten, die wegen einer ganz anderen Erkrankung zu uns kommen. Trotzdem müssen wir uns um sie besonders kümmern, da sie ja eine potenzielle Infektionsgefahr für andere Patienten und für die Mitarbeitenden darstellen.
Die andere Geschichte ist, dass wir in der aktuellen Lage auch Patienten aus der Ukraine haben. Das sind dann zum Beispiel Kinder und Jugendliche, die zu einer onkologischen Therapie bei uns sind, die sie im Heimatland nicht bekommen können oder vereinzelte Kriegsverletzte. Zum wesentlichen Teil aber haben wir natürlich einen sehr aktiven Betrieb in der Krankenversorgung, der momentan eigentlich ungestört verläuft. Aktuell haben wir auch wieder genügend Mitarbeitende an Bord und müssen nicht ganze Bereiche schließen.
Wie kommen die Menschen aus der Ukraine zu ihnen? Gibt es noch geordnete Sanitätsflüge, etwa für die Kinder, die einer onkologischen Betreuung bedürfen? Wie kommen die Verwundeten zu ihnen? Muss man sich das so vorstellen, dass sich die Menschen durchschlagen? Oder gibt es noch einen geordneten medizinischen Verkehr?
Im Moment ist das sehr geordnet. klassischer Medizinalverkehr, entweder per Bus, Bahn oder per Flugzeug. Wir versorgen in Deutschland regelhaft den allergrößten Teil an Patienten mit bestimmten Augentumoren, vor allem auch bei Kindern. Da kommen die ukrainischen Patienten gezielt deswegen hierher, entweder über Organisationen oder manchmal auch aus Eigeninitiative. Und die Kriegsverletzten kommen über Hilfsinitiativen oder direkt über das sogenannte Kleeblattsystem. Das wird vorher angekündigt. Da haben wir einen Ansprechpartner bei uns oder eigentlich zwei – für Erwachsene und Kinder. Da wird dann im Zweifel schnell bei uns angefragt und dann werden die Patienten auch gezielt hierher geflogen.
Wie viele Patienten aus der Ukraine haben sie derzeit? Und wie viele von denen sind Onkologiepatienten beziehungsweise akut Kriegsverletzte?
Aktuell versorgen wir 31 Kinder, davon 27 mit einen onkologischen Krankheitsbild, zwei Minenopfer sowie zwei Kinder mit anderen Erkrankungen. Hinzu kommen rund 20 Erwachsene mit unterschiedlichen Erkrankungen ohne besonderen Schwerpunkt.
Sie haben ja in der Pandemie neben dem desolaten Zustand der Digitalisierung ganz besonders den Mangel an Pflegepersonal und Betten beklagt. Haben Sie schon irgendwelche Verbesserungen bemerkt durch Maßnahmen der neuen Bundesregierung?
Das ganze Thema Pflege ist ja ein Riesenthema an sich. Und das ist etwas, was uns wirklich sehr intensiv seit langer, langer Zeit beschäftigt. So auch aktuell. Wir versuchen das jeden Tag aufs Neue zu kompensieren. Aber man muss realistisch sein: Der Pflegenotstand hat sich in Deutschland über einen langen Zeitraum aufgebaut und verfestigt. Auch die Lösung dieser großen Herausforderung wird viele Jahre dauern. Gleichermaßen muss immer wieder darauf hingewiesen werden, dass Pflege nicht gleich Pflege ist. Man kann einfach Altenpflege nicht mit der Intensivpflege gleichsetzen und auch nicht mit der Pflegefachkraft in der Neonatologie. Neben dem allumfassenden „Pflegenotstand“ haben wir natürlich auch unser absolut zentrales Digitalthema, bei dem auch alles genauso ist, wie es war. Da bin ich selbst gespannt, wo da die Reise mit der neuen Regierung hingeht.
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Professor Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Essen.
© Quelle: Universitätsmedizin Essen
Das Gesundheitswesen durchlebt einen Wandel.
Die Krankenkassen sind ja eigentlich ein sehr guter Indikator für die Finanzierbarkeit eines Gesundheitssystems. 2018 wurde da noch ein Überschuss von 2 Milliarden Euro erreicht. 2021, also nur drei Jahre später, war daraus ein Fehlbetrag von 5,8 Milliarden Euro geworden. Wir haben immer noch diese enorm hohe Anzahl von Krankenhäusern. Das ist der eine Punkt. Die Finanzierung all dieser Krankenhäuser wird uns einholen. Den Pflegenotstand haben wir angesprochen. In zu vielen Krankenhäusern beschäftigen wir die Pflegenden nicht effizient, weil die Struktur viel zu zersplittert ist und wir keine Skaleneffekte nutzen können. Und zum Thema Nachhaltigkeit: Jedes einzelne Krankenhaus belastet auch noch die Umwelt. Auch aus dem Grund kann man das nicht so belassen, wie es jetzt ist. Und deswegen steht für mich außer Frage, dass wir einen grundsätzlichen Strukturwandel brauchen. Die überfällige Schließung von Krankenhäusern muss weiter verfolgt werden, aber nicht auf den Schultern des Landrates mit seiner 140-Bettenklinik. Wir brauchen bundesweite Konzepte, wir brauchen eine Strategie, da wir in diesem aktuellen Zustand nicht verharren können.
Es gibt keinen Grund, uns alle wieder zu feiern, dass bei der Pandemie das eine oder andere Faxgerät stillgelegt wurde.
Haben Sie Sorge, dass nach der Großlage Covid und dem Fokus auf die Ukraine die Reform des Gesundheitswesens nach hinten geschoben wird?
Da habe ich große Sorge. Es ist ja so, dass auch in der Pandemie einige Krankenhäuser durch Freihaltepauschalen oder andere Zuwendungen überlebt haben. Jetzt kehren wir allmählich in den Normalbetrieb zurück. Und nun muss man zusehen, dass diese Reform – speziell die Digitalisierung – nicht vollkommen verebbt. Die Pandemie hat da nicht viel Gutes zu beigetragen. Auf jeden Fall gibt es keinen Grund, uns alle wieder zu feiern, dass bei der Pandemie das eine oder andere Faxgerät stillgelegt wurde oder dass das DIVI-Register funktioniert. Das sind die richtigen ersten Schritte auf einem noch sehr langen Weg. Wir brauchen bei den Reformen einen aktiven Steuerungsprozess, keine Zufälle durch willkürliche Geldflüsse. Ich bin da nicht so optimistisch, wenn ich dann auch noch an die Kriegsfolgen denke.
Gibt es denn da so eine Art Prioritätenliste?
Es bleibt dabei, dass wir das Thema Digitalisierung als Grundlage für eine moderne und bezahlbare Medizin ganz maßgeblich weiterentwickeln müssen. Wir müssen unsere eigenen Prozesse hinterfragen und optimieren. Und wenn es irgendwie geht, müssen wir diese digital unterstützen. Das zweite Thema ist das Personal. Wir sprechen über Fachkräftemangel und müssen aufpassen, dass wir nicht irgendwann über generellen Arbeitskräftemangel sprechen. Dazu kommt auch noch das sehr komplexe Thema Pflege. Das ist ein Thema von nationaler Tragweite. Hierzu gehören auch Entwicklungen wie Leiharbeitskräfte oder Pflegekräfte aus dem Ausland. Wieder sprechen wir über die Konsequenzen, die wir als Folge viel zu später Reaktionen auf einen sich seit Jahrzehnten ankündigenden Mangel zu tragen haben.
Universitätskliniken trifft diese Engpasssituation besonders hart – allerdings nicht, weil sie personell schlechter ausgestattet sind als viele nicht-universitäre Krankenhäuser. Das Gegenteil ist der Fall. Als Universitätsmedizin Essen liegen wir bezogen auf die PbUGV (Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung, Red.) besser als zahlreiche andere Krankenhäuser. Das Problem ist, dass die Universitätskliniken ein Aufgabenportfolio zu bewältigen haben, das Störungen nicht toleriert. Universitätskliniken sind nicht nur Ausbildungsstätte der Ärztinnen und Ärzte, sie sind nicht nur die Einrichtung, aus der zahlreiche Chefärztinnen und Chefärzte kommen, sie sind nicht nur Leuchttürme eines jeden Bundeslandes, sie sind eben auch Innovationstreiber der deutschen Medizin, Vorhalteort komplexester Medizin (zum Beispiel Transplantationsmedizin) und für viele Schwerstkranke die letzte Hoffnung auf Lebensrettung. Wenn die Mittel knapper werden, dann gerät auch das System Universitätsklinik unter Druck, mit den genannten schwerwiegenden Auswirkungen.
Sie sagten einmal, dass bei uns Datenschutz vor Gesundheitsschutz ginge und der Datenschutz eine Art Heilige Kuh im Lande sei. Aber nun zeigt sich ja in diesen Kriegszeiten, dass Heilige Kühe anscheinend doch geschlachtet werden können, wenn man sich etwa das Thema Waffenlieferungen anschaut. Unter Druck sind Reformen plötzlich realistisch.
Richtig. Nur haben wir es bei der Pandemie nicht bewerkstelligt bekommen. Ein entscheidendes Moment und auch ein Symbol für falsche Prioritätensetzung war die Corona-Warnapp. Die Warnapp hat ihr Potenzial aus verschiedenen Gründen, aber eben auch wegen des überzogenen Datenschutzes nicht entfalten können. Der Datenschutz wurde nicht gelockert, obgleich das damals diskutiert wurde. Daran hat man aber gesehen, wie hoch die Hürde Datenschutz in Deutschland hängt. Deswegen bin ich recht skeptisch, ob und wann diese Lockerung kommt. Ich habe von Politikern gehört, dass man das Problem erkannt habe und Überlegungen angestellt würden, wie ein Verbraucher- und Patienten-freundlicherer Datenschutz aussehen könnte. Aber das ist ja nicht nur eine Geschichte fürs Gesundheitsministerium, da ist ja auch das Justizministerium involviert. Vor dem Hintergrund bin ich gespannt, ob das kommt. Für mich steht fest, es muss maßgeblich darum gehen, den Patientinnen und Patienten ihr Recht auf Datennutzung sicherzustellen. Denn wenn deren Daten nicht adäquat genutzt werden können, dann könnte es sein, dass Menschen leiden müssen, bis in einen vielleicht verfrühten Tod.