Angst vor Pflegeheim-Zwang per Gesetz: Ella Seibert (18) will weiter zu Hause leben
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Ella sitzt zuhause in ihrem Rollstuhl. Die 18-Jährige leidet an Spinaler Muskelatrophie.
© Quelle: Uwe Zucchi/dpa
Kassel/Berlin. Ein selbstbestimmtes Leben führen, das ist für Ella Seibert das Wichtigste. Die 18-Jährige leidet an einer Spinalen Muskelatrophie, einer Erkrankung bestimmter Nervenzellen im Rückenmark, die sich durch fortschreitenden Muskelschwund und motorischen Funktionsverlust zeigt. Seibert sitzt im Rollstuhl. Sie ist rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen und muss regelmäßig beatmet werden. Dennoch führe sie ein selbstbestimmtes Leben, sagt die Kasselerin. Zumindest noch. Denn Seibert fürchtet, dass sich das bald ändern könnte.
Die junge Frau hat Angst, dass sie auf Grundlage des neuen „Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetzes“ (IPReG) künftig nicht mehr Zuhause gepflegt werden darf, sondern in einer Pflegeeinrichtung wird leben müssen. „Meine größte Sorge ist, dass ich aus meiner Familie gerissen werde und nicht mehr selbst entscheiden kann, was ich will, sondern fremde Menschen über mein Leben bestimmen könnten“, sagt sie.
Krankenkasse entscheidet über Seiberts Situation
Das im Oktober 2020 in Kraft getretene Gesetz, dessen Richtlinie der Bundesgesundheitsausschuss bis Ende des Monats ausarbeiten will, sieht vor, dass der Anspruch auf häusliche Intensivpflege für Beatmungspatientinnen und -patienten nur noch an den Orten besteht, an denen die medizinische und pflegerische Versorgung tatsächlich und dauerhaft sichergestellt werden kann. Ob die Bedingungen vorliegen, soll die Krankenkasse entscheiden.
Vor Ort soll das mindestens einmal im Jahr durch den medizinischen Dienst (MD) geprüft werden. Das Bundesgesundheitsministerium argumentiert, dass Qualitätsmängel in der außerklinischen Intensivpflege schwere, sogar lebensbedrohliche Konsequenzen für die betroffene Person haben könnten. „Deswegen ist die unabhängige Prüfung des Medizinischen Dienstes an dieser Stelle sehr wichtig.“
Ziel der Neuregelungen ist es laut Ministerium, die Versorgung der Patientinnen und Patienten bei der Pflege außerhalb von Kliniken zu verbessern und Missbrauch entgegenzuwirken. „Das Wahlrecht der Patientinnen und Patienten, an welchem Ort die außerklinische Pflege intensivmedizinisch stattfindet, bleibt erhalten. Auch die Versorgung in der eigenen Häuslichkeit bleibt weiterhin möglich“, betont es.
Zu wenige qualifizierte Mediziner
Ella Seibert und ihre Mutter Martina Seibert beruhigt das nicht. „Es ist bereits durchgesickert, dass für die Pflege Zuhause unüberwindbare Hürden aufgebaut werden“, sagt Ella Seibert. Beispielsweise brauche es künftig voraussichtlich eine Verordnung eines Arztes, der über acht Zusatzqualifikationen verfügt, um weiter Zuhause gepflegt werden zu können. „Solche Mediziner gibt es in Deutschland aber kaum“, sagt Ella Seibert. Das bestätigt auch Henriette Cartolano vom Selbsthilfe-Netzwerk Intensivkinder Zuhause. „Der Kreis der verordnungsberechtigten Ärzte wird stark eingeschränkt und vor jeder Verordnung ist eine erneute Überprüfung des Entwöhnungspotenzials vorgesehen, wobei die hierfür qualifizierten Mediziner flächendeckend überhaupt nicht vorhanden sind“, sagt sie.
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Ellas Hände liegen auf den Bedienelementen für den Rollstuhl.
© Quelle: Uwe Zucchi/dpa
In ihrem Zuhause seien die Betroffenen nur so lange sicher, wie ihre Versorgung durch Pflegefachkräfte gesichert sei. Persönliche Träume blieben Schäume, wenn bei beabsichtigtem Wohnortwechsel, Studium, Berufstätigkeit et cetera die äußerst anspruchsvollen Bedingungen für die Pflege von den Betroffenen nicht zu organisieren seien. „Die Frage, inwieweit frisch Betroffene ohne etablierte Versorgungen, unter Geltung der Gesetzgebung und der Richtlinie, überhaupt noch eine Chance auf eine häusliche Versorgung haben, bleibt abzuwarten, erfüllt uns jedoch mit großer Sorge“, betont Cartolano.
Kosten für ambulante Intensivpflege selbst tragen
Diese Sorge kann die Berliner Rechtsanwältin Anja Hoffmann grundsätzlich nachvollziehen. Die Spezialistin für Sozialversicherungs- und Pflegerecht betont aber auch, dass das IPReG das Wahlrecht der Patienten im konkreten Wortlaut nicht einschränkt. „Auch künftig können die Betroffenen gleichberechtigt zwischen stationärer und ambulanter Versorgung wählen“, erläutert sie.
Faktisch allerdings führe die vollständige Kostenübernahme der intensivpflegerischen Versorgungen im stationären Bereich zu deren Bevorzugung. Denn das neue Gesetz sieht vor, dass Intensivpflegebedürftige, die in stationären Pflegeeinrichtungen versorgt werden, die Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Investitionen erstattet bekommen. Ambulant versorgte Intensivpflegebedürftige hingegen müssen diese Kosten weiter selbst tragen.
„Damit wird sich zukünftig der Fokus zwangsläufig auf die stationäre Versorgung verschieben“, sagt Hoffmann. Das IPReG schränke das Wahlrecht für die Einzelversorgung zwar nicht ein, befeuere aber deren Abbau, der aufgrund des erhöhten Personalbedarfs, des Mangels an Pflegefachkräften und der geringeren Vergütung im Vergleich zur Mehrfachversorgung schon seit Jahren vorherrsche. Das sei wohl auch Ziel des Gesetzgebers, denn: „Die stationäre Versorgung bietet die Möglichkeit, mehr Versicherte mit weniger Pflegekräften zu versorgen“, erläutert die Juristin.
Seibert hat Angst zu ersticken
Ella Seibert macht das Angst. Angst, dass in einem Heim keine Pflegekraft schnell genug da sein könnte, um sie vor dem Ersticken zu bewahren. Denn bei Menschen, die beatmen werden müssen, deutschlandweit sind das etwa 20.000, muss das Sekret, das sich ansammelt, regelmäßig abgesaugt werden. „Dabei geht es um Minuten“, betont Seibert.
Zuhause stellt sich dieses Problem nicht. Seibert wird engmaschig betreut, von vertrauten Menschen, in vertrauter Umgebung. Sie besucht die Web-Individualschule, Deutschlands einzige reine Online-Schule, treibt Sport, trifft sich mit Freunden, ist mittendrin. Ihr Lieblingsort ist ihr Schlafzimmer. Dort kann sie kreativ sein, basteln, lesen. Es ist nach ihren Wünschen eingerichtet. Die nötigen Vorkehrungen sind getroffen, Hilfsmittel vorhanden. Im Heim, so fürchtet Seibert, wäre das alles anders.
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Martina Seibert und ihre Tochter Ella zuhause im Gespräch. Die 18-Jährige leidet an Spinaler Muskelatrophie.
© Quelle: Uwe Zucchi/dpa
Fremdbestimmung in einer Pflegeeinrichtung
Schon allein bedingt durch die Strukturen in einer Pflegeeinrichtung gebe es dort ein hohes Maß an Fremdbestimmung, sagt auch Naxina Wienstroer, Vorsitzende des Landesbehindertenrates Hessen. Tagesablauf, Essen, Zimmereinrichtung – alles werde von anderen entschieden. „Das ist ein harter Eingriff.“ Es sei auch für Menschen mit Behinderung außerordentlich wichtig, selbst entscheiden zu können, wie und wo sie leben wollten. „Das ist ein Recht, dass jeder Nichtbehinderte ganz selbstverständlich für sich proklamiert.“
Für Ella Seibert ist klar, wie und wo sie leben will. Zuhause. Dort, wo sich ihre Eltern, Freunde und Pfleger um sie kümmern. Am Dienstag hat sie ihren 18. Geburtstag gefeiert. Doch Pläne schmieden, wie andere Volljährige das tun, das erscheint ihr unmöglich vor dem Hintergrund der Unsicherheit, die die künftig wohl jährliche Prüfung mit sich bringt. Dabei weiß sie sehr genau, was sie will: nach dem qualifizierten Realschulabschluss ihr Abitur machen und dann in Hamburg oder Berlin leben und Grafikdesign studieren.
RND/dpa