„Sie sind sich des Risikos bewusst“: Mediziner Jens Wagenknecht zur Impflücke bei den über 60-Jährigen
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Beratung ohne Bevormundung als Möglichkeit, die Impflücke zu schließen: Jens Wagenknecht mit einem Patienten in seiner Arztpraxis.
© Quelle: picture alliance/dpa
Herr Wagenknecht, wie kommt eine Impflücke von drei Millionen bei den Ü60-Jährigen, neun Millionen Ungeboosterte in derselben Gruppe, zustande? Das ist doch gerade die Gruppe, die relativ früh auf ihre besondere Gefährdung durch schwere Covid-Verläufe hingewiesen wurde.
Diese Zahl wundert mich auch. Und in meiner eigenen Praxis entdecke ich kaum jemand, der nicht geimpft oder geboostert ist.
Sind das noch technische Probleme? Dass man mit den „Wegen“ zur Impfung nicht klarkommt oder sie scheut? Man sah in der Frühzeit der Pandemie diese TV-Beiträge mit ratlosen Alten vor Computern.
Da hatte ich aber immer den Eindruck, dass Nachbarn, Angehörige oder Freunde viel übernommen haben. Bei mir haben sich sogar 95-Jährige online zur Impfung angemeldet.
Oder sind es bestimmte Milieus, die die Ü60-Lücke bilden?
Mein Eindruck ist, dass der Anteil von Ungeimpften aus dem arabischsprachigen Raum, von Menschen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion oder osteuropäischen Ländern recht hoch ist. Diese Menschen haben gegenüber staatlich empfohlenen Maßnahmen von jeher ein Urmisstrauen. Viele derjenigen, die in den letzten Wocken kleckerweise kamen, leben hier zwar schon lange, es ist ihnen aber dennoch suspekt, wenn der Staat eingreift. Mir sind ehemalige Profisportler aus den Baltischen Staaten begegnet, 40- bis 50-jährige Männer, die lange ungeimpft geblieben sind, bis der Arbeitgeber Druck ausgeübt hat. Sie haben auch ihre Kinder spät oder gar nicht impfen lassen und sogar diese Kinder tragen das Misstrauen der Eltern vor sich her.
Verhindert das persönliche Glück der Nichtinfektion die Impfbereitschaft?
Ja. Ich glaube, je länger wir in der Pandemie sind, desto mehr sagen sich viele dieser Menschen: „Guck, ich hab‘s doch bis jetzt gut geschafft.“ Ein Teil dieser Gruppe wird sich in der Gefahrensituation tatsächlich isolieren, auch vereinsamen. Und wer sich in seiner Wohnung einsperrt und sich nur noch zum Edeka schleppt, den sehen wir in der Praxis nicht und können ihn auch nicht zu seinem Impfstatus beraten.
Diese Beratung würde er bekommen?
Jeder Patient, der meine Praxis betritt, wird von mir und meinen Mitarbeitern befragt: „Sind Sie eigentlich schon geimpft, und wenn ja, wie oft? Wenn nein, gibt es einen besonderen Grund, oder brauchen Sie Unterstützung, Hilfe, Beratung?“ Jeder, der kommt, muss sich der Frage stellen, bekommt aber auch eine nicht bevormundende Beratung. Aber ich glaube, es gibt auch eine Gruppe, die genau deswegen nicht in die Praxen kommt. Manche lassen ihre Blutdrucktabletten nur durch Angehörige abholen, meiden den Kontakt.
Lebt ein Teil dieser Gruppe vielleicht auch hausarztlos?
Es gibt Menschen, die keinen Hausarzt benennen können, die für sich entscheiden, welcher Facharzt gerade nötig erscheint. Und die Impfkampagne hat gezeigt, dass diese Gruppe gar nicht so klein ist. Deshalb sind die öffentlichen Angebote mit den „aufsuchenden Impfungen“ oft gut gelaufen – zum Beispiel an den sozialen Brennpunkten. Ich dachte mir immer: „Denen haben wir doch auch einen Termin angeboten. Die hätten doch auch zu mir kommen können.“ Tun sie aber nicht. Die kommen, wenn ein Bus unten steht und jemand ruft, dass es hier eine Wurst und eine Impfung gibt.
Was können Arztpraxen tun, um die Ü60-Impflücke zu schließen?
Ununterbrochen informieren. Offene Impfangebote machen. Das funktioniert aber eher bei jungen Leuten. Wenn Kollegen Impfstoff übrig hatten und das in den sozialen Medien gepostet haben, sind die ihre Reste eigentlich immer losgeworden. Da sind dann spontan Jugendliche mit ihrem Moped angekommen.
Regierung: Impflücke muss geschlossen werden
Der Sprecher des Gesundheitsministeriums Andreas Deffner betonte am Montag in Berlin, dass man auf dem Weg zum Ende der Pandemie sei.
© Quelle: Reuters
Wird Omikron, das derzeit bei uns schon 89 Prozent der Infektionen stellt, von den ungeimpften Älteren nicht mehr als Bedrohung empfunden, weil der Glaube herrscht, mit den deutlich milderen Verläufen komme ein stabiles Immunsystem doch klar, und danach, bei der Phi- oder Rho-Variante, wird‘s noch harmloser?
Mag sein, aber das erklärt nicht, warum diese Ü60-Leute während der bedrohlicheren Delta-Welle auch nicht zur Impfung gegangen sind. Ich glaube, dass sich große Teile dieser Gruppe schon des Risikos bewusst sind. Aber das sind vielleicht auch Menschen, die bewusst rauchen, bewusst ihr Übergewicht pflegen und sich allen gesundheitlichen Vernunftansätzen auch sonst verschließen. Diesen Teil der Gruppe werden wir nicht erreichen. Und ich finde es mittlerweile auch in Ordnung, wenn Menschen dieses Risiko bewusst eingehen. Und wenn der eine oder andere schwer krank wird, ist das gesellschaftlich problematisch, weil sie Menschen, die in Kliniken arbeiten, damit schwer belasten, aber für das betroffene Individuum ist das nur Pech – ähnlich dem Raucher mit Lungenkrebs.
Aber asozial ist das doch auch – das Risiko für andere durch meine Entscheidung gegen die Impfung gleich mit in Kauf zu nehmen. Und es war wiederholt zu lesen, dass die von schweren Verläufen betroffenen Ungeimpften ganz dankbar für die Aufnahme in der Intensivstation sind.
Ja, das ist so. Und diesbezüglich ist auch festzustellen, dass es in dieser Gruppe kaum einen Lerneffekt gibt. Auch nicht in Ländern wie Thüringen oder Sachsen, in denen es eine fünf- oder sechsmal höhere Todesrate gibt als in meinem Landkreis Friesland. Selbst nach einer schweren Erkrankung eines Angehörigen zieht dessen Familie nicht los und sammelt noch Freunde ein, um sich impfen zu lassen. Es gibt da keine Lernkurve, wie man es eigentlich erwarten sollte. Das will auch nicht in meinen Kopf.
Gibt es vielleicht Misstrauen gegenüber fremdem Genmaterial im eigenen Körper durch die bisherigen Impfstoffe und könnte der Proteinwirkstoff von Novavax im Februar die Impflücke schließen – ein künstlicher Stoff, der frei von echtem Virusmaterial ist?
Das ist die Hoffnung der Bundesregierung. Aber man muss auch sagen: Ob das nun wirklich der Stoff ist, der bei den jetzigen Virusvarianten vor schweren Verläufen schützt, das wissen wir eigentlich noch gar nicht. Die Grundlage der Zulassung für Novavax ist eine schwache Studie bezüglich der Alpha-Variante des Virus. Der Politiker sagt da natürlich: besser als gar nichts in dieser Gruppe. Aber wenn ich mir ansehe, was für Antikörperspiegel Patienten nach verschiedensten Impfstoffkombination haben, zeigt sich die Wirksamkeit der vorhandenen Impfstoffe. Wir haben hier in Friesland – wegen des sogenannten Kochsalzskandals – Menschen mit schon bis zu vier Impfungen. Die verlangen aus der Sorge heraus Antikörpermessungen und dabei treten dann astronomische Zahlen auf – Höchststand waren bei uns 36.700 Einheiten des Antikörpers pro Milliliter Blut. Da hat man fast das Gefühl, demjenigen müssten Antikörper aus Ohren und Nase herauskommen. Das zeigt, diese Impfstoffe, die wir jetzt haben, haben mindestens für eine gewisse Zeit eine gute Wirkung.
Es gibt die Angst vor Langzeitwirkungen.
Dazu muss ich sagen, nach so vielen durchgeführten Impfungen weltweit hätte sich ein Trend offenbaren müssen, und glaube auch nicht, dass da noch was kommt. In Novavax ist zum Beispiel ein Wirkverstärker eingesetzt, der die Nebenwirkungen genauso wie die Wirkung verstärkt. Erstaunlich, dass die Leute darüber hinwegsehen. Motto: lieber was Chemisches. Ich habe viele Patienten, die sehnlichst darauf warten und damit dann auch gleich ihre Kinder impfen lassen wollen, nur um den mRNA-Impfstoff zu umgehen. Aber für Kinder ist Novavax gar nicht zugelassen und wird es auch erst mal nicht. Völlig irrational.
Würde die Impfpflicht die Ü60-Lücke schließen?
Ein kleiner Teil würde wohl aus Gehorsam heraus Folge leisten, vielleicht 10 Prozent. Aber ich glaube, dass der Teil kleiner ist als erhofft. Bei einem nicht unbeträchtlichen Teil wird wieder die Abwehrhaltung gegenüber der Obrigkeit greifen und sogar zunehmen.
Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, sprach von der Unzumutbarkeit der Impfpflicht, dass Ärzte in ihren Praxen nicht Patienten wider Willen impfen werden. Hat er mit dieser Angstmache nicht Impfpflicht mit Impfzwang verwechselt?
Genau. Das wäre Impfzwang und völlig unvorstellbar. Vorgeführt werden einem Arzt Patienten von der Polizei nur zur Blutentnahme bei Drogendelikten oder bei vermutetem Fahren unter Alkoholeinfluss. Das ist gesetzlich geregelt und auch richtig so – zur Beweissicherung. Im Falle einer allgemeinen Impfpflicht würden wir Menschen impfen, die sagen: „Ich möchte jetzt geimpft werden, weil ich geimpft werden muss.“ Das ist kein Impfzwang, sondern die Umsetzung der Impfpflicht. Damit sind wir als Praxis fein raus. Denn das ist für uns nicht viel anders als früher in der Pandemie, als der zögerliche Großvater von seinen Kindern und Enkeln mit viel gutem Zureden – „Wir brauchen dich. Wir möchten dich noch lange um uns haben“ – zur Impfung gebracht wurde. Vor der Impfpflicht habe ich keine Sorge. Unsere Aufgabe als Hausärzte ist und bleibt sachliche Beratung und wir ändern Tonfall und Haltung gegenüber den Patienten auch nicht.
Was denken Sie: Sind wir vielleicht im letzten Corona-Jahr?
Ich glaube, dass sich in diesem Jahr etwas zum Positiven entscheidet. Wenn sich die Omikron-Variante, die man aufgrund des höheren Anteils der leichten Verläufe ja schon fast als Geschenk des Himmels ansehen muss, so durchsetzt, dann werden viele Geimpfte einen natürlichen Booster erleben. Wenn diese Immunität schnell kommt – vor der nächsten Variantenänderung –, könnte ich mir vorstellen, dass das Infektionsgeschehen abebbt oder sich in eine „Schnupfengeschichte“ verwandelt. Ich bin optimistisch – eigentlich haben wir viel erreicht mit den Impfungen. Ich glaube, wir sehen Licht am Ende des Tunnels.
Jens Wagenknecht (59) ist stellvertretender Vorsitzender des Hausärzteverbands Niedersachsen und Mitglied der Kammerversammlung der Ärztekammer Niedersachsen. Wagenknecht hat an der Medizinischen Hochschule Hannover studiert, ist Facharzt für Allgemeinmedizin und unterhält mit seiner Kollegin Steffi Lange die Gemeinschaftspraxis Jadebusen in Varel.