Long Covid als Parameter für Corona-Regeln – wie sinnvoll ist das?
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Ein Intensivpfleger arbeitet auf der Intensivstation eines Krankenhauses an einer an Covid-19 erkrankten Patientin.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Eigentlich sollte es erst im Herbst so weit sein, dass die Corona-Fallzahlen in Deutschland wieder steigen. Doch dann kam Delta – eine noch ansteckendere Virusvariante, die mittlerweile rund 74 Prozent aller Neuinfektionen ausmacht und damit das Infektionsgeschehen dominiert. Sie sorgt dafür, dass die Fallzahlen schon jetzt langsam in die Höhe klettern.
Die Fallzahlen würden zu früh zu stark ansteigen, warnte SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach auf Twitter: „Das Impftempo reicht nicht, sehr hohe Fallzahlen im Herbst noch zu verhindern.“ Er glaubt, dass es in der Gesellschaft bald wieder zu einer Diskussion über mögliche Einschränkungen kommen könnte, bei der auch das Risiko für Long Covid – also mögliche Spätfolgen einer Corona-Erkrankung – eine Rolle spielen dürfte. Es werde eine Debatte geben, „ob auch Long Covid Einschränkungen begründen darf oder ob Long Covid als medizinische Bagatelle gesehen werden sollte“.
Kritik an der Sieben-Tage-Inzidenz
In den vergangenen Wochen wurde häufiger darüber diskutiert, mit welchen Parametern das Infektionsgeschehens beurteilt werden sollte. Bislang war etwa die Sieben-Tage-Inzidenz, die die Zahl der Corona-Fälle pro 100.000 Einwohner innerhalb der vergangenen sieben Tage beschreibt, eine wichtige Kennzahl.
Durch die Impfungen verliere sie jedoch zunehmend an Aussagekraft, twitterte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. „Wir benötigen nun noch detailliertere Informationen über die Lage in den Kliniken.“ Künftig müssten die Krankenhäuser das Alter, die Art der Behandlung und den Impfstatus der Covid-19-Patientinnen und -Patienten melden. Der Deutsche Hausärzteverband plädiert zudem dafür, die Lage in den Arztpraxen zu berücksichtigen.
Datenlage zu Long Covid noch zu gering
Mit Long Covid bringt Lauterbach nun einen neuen Parameter ins Spiel, der darüber entscheiden soll, ob Corona-Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen ergriffen werden müssen oder nicht.
„Ich halte ‚Long Covid’ allenfalls als zusätzlichen Parameter für eine Gesamteinordnung des Geschehens für sinnvoll, nicht für eine zeitnahe Steuerung“, sagte Prof. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Denn der Parameter „Long Covid“ ist mit einigen Unsicherheiten behaftet.
Was ist Long Covid? Und wer ist gefährdet?
Treten drei Monate nach einer Coronavirus-Infektion noch Symptome auf, spricht man vom Long Covid Syndrom. Betroffene werden zunehmend jünger, berichten Ärzte
© Quelle: RND
Zum Beispiel gibt es in Deutschland keine verlässlichen, repräsentativen Daten zu Corona-Spätfolgen. Zeeb spricht von einer „sehr unvollständigen Forschungslage“, gerade auch in Hinblick auf Long Covid bei Kindern und Jugendlichen. Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin gehen davon aus, dass rund 10 Prozent aller Covid-19-Erkrankten mit lang anhaltenden Symptomen zu kämpfen haben. Genaue Zahlen gibt es jedoch nicht.
Ulmer Forscherteam untersucht Corona-Spätfolgen
Hinweise zur Häufigkeit von Long Covid liefert ein Forschungsprojekt der Universitätsklinik Ulm. „Wir hatten bislang rund 250 Patienten“, sagte Dominik Buckert, betreuender Oberarzt der Spezialambulanz für Covid-Spätfolgen an Lunge, Herz und Gefäßen. „20 Prozent von ihnen haben Organschäden.“
Die Betroffenen seien meist zwischen 40 und 50 Jahre alt, „und eigentlich verhältnismäßig gesund, also ohne chronische Vorerkrankungen“. Am häufigsten litten sie unter Herzmuskelentzündungen, Herzschwäche und Herzrhythmusstörungen. „Bei der Lunge beobachten wir, dass sich das Lungengerüst verändert und so ein schlechterer Gasaustausch möglich ist“, so Buckert. Die Folge: Atemnot.
Britische Statistikbehörde erfasst selbst diagnostizierte Long-Covid-Fälle
Anders als in Deutschland sammeln britische Behörden seit einiger Zeit Daten zu Long Covid. In einer Analyse der Statistikbehörde ONS wurden bis zum 6. Juni 962.000 Menschen erfasst, die unter Spätfolgen litten. Long Covid definiert die Behörde als Symptome, die länger als vier Wochen nach der Corona-Infektion anhalten und sich nicht durch etwas anderes erklären lassen. Müdigkeit war eines der häufigsten Symptome, gefolgt von Kurzatmigkeit, Muskelschmerzen und Konzentrationsschwierigkeiten.
Das Problem bei den Daten: Es handelt sich um Selbstauskünfte. Das heißt, die berichteten Symptome sind nicht von einer Ärztin oder einem Arzt diagnostiziert worden. Stattdessen gehen sie auf eine Umfrage zurück, bei der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach ihrem Gesundheitszustand befragt wurden. Die Antworten sind also Selbstdiagnosen, was die Aussagekraft der Analyse einschränkt.
Epidemiologe: Zahl der Neuinfektionen bisher „noch unproblematisch“
Wir werden wieder mit höheren täglichen Infektionszahlen, vor allem bei Jüngeren, rechnen müssen.
Hajo Zeeb,
Epidemiologe
Doch nicht nur die mangelhafte Datenlage macht Long Covid als Parameter schwierig, sondern auch die Risikoeinschätzung. Denn nicht jeder, der an Covid-19 erkrankt, muss lang anhaltende Symptome entwickeln. Jede und jeder hat ein individuelles Risiko für Long Covid, das nicht kalkulierbar ist. Das heißt: Ein Anstieg der Fallzahlen bedeutet noch nicht, dass ebenso viele Spätfolgen auftreten müssen. Es wird unter den Infizierten immer welche geben, die nur leicht erkranken und bei denen die Symptome nach einigen Tagen wieder verschwinden.
Hinzu käme nach Einschätzung des Epidemiologen Zeeb, dass die entsprechenden Daten zu Long Covid aus dem Krankenkassensystem erst mit zeitlichem Verzug zur Verfügung stehen würden. „Eine Überlastung des Gesundheits- und Rehabilitationssystems durch Long-Covid-Fälle erscheint angesichts der noch unklaren zeitlichen Verläufe und der Behandlungsbedürftigkeit je nach Ausprägung aus meiner Sicht derzeit nicht absehbar“, sagte er.
Die bisherige Entwicklung des Infektionsgeschehens entspreche „dem unteren Spektrum der Erwartungen“, die aktuelle Zunahme der Neuinfektionen sei „noch unproblematisch“. Nach den Sommerferien sei die eigentlich interessante Zeit. „Dann geht es darum, den Anstieg der Fallzahlen niedrig zu halten“, so Zeeb. „Ob das gelingt, ist fraglich. Wir werden wieder mit höheren täglichen Infektionszahlen, vor allem bei Jüngeren, rechnen müssen.“