Medizinsoziologe zu Corona: „Lügen und Verleugnungen sind ein fester Bestandteil von Epidemien“

Medizinsoziologe Nicholas Christakis weiß: Pandemien verändern Gesellschaften und rufen stets Zweifler auf den Plan. Das habe schon die spanische Grippe (links im Bild ein Abstrich im Jahr 1918 in Dallas) bewiesen.

Medizinsoziologe Nicholas Christakis weiß: Pandemien verändern Gesellschaften und rufen stets Zweifler auf den Plan. Das habe schon die spanische Grippe (links im Bild ein Abstrich im Jahr 1918 in Dallas) bewiesen.

Der amerikanische Medizinsoziologe Nicholas Christakis über Verleugnung der Gefahr als Wesenszug von Pandemien, Probleme der Rechten wie der Linken mit der Wahrheit – und die Gründe, warum Corona nicht das Ende aller Partys ist.

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Mr. Christakis, Sie haben neulich getwittert, dass wir mit Covid-19 Glück gehabt haben – warum?

Wir haben nicht Glück, dass es diese Krankheit gibt – wir haben Glück, weil sie so viel schlimmer hätte sein können. Bei Sars-1 starben 2003 10 Prozent der Menschen, die sich angesteckt hatten, bei Mers 2015 sogar 30 Prozent – das waren beides ebenfalls Coronaviren.

Viele Menschen im jungen und mittleren Alter erscheinen denn auch recht unbesorgt, sich anzustecken.

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Wenn man sehr jung ist, ist die Wahrscheinlichkeit zu sterben sehr gering. In den 20ern hat man ein Risiko von 1:3000, im mittleren Alter von circa einem Prozent – und ab 75 besteht schon eine 20-prozentige Gefahr. Als Vater bin ich froh, dass meine Kinder nicht gefährdet sind.

Wie alt sind die?

Meine Frau und ich haben Kinder von 28 bis zehn Jahren, denn wir haben einen zehnjährigen Jungen adoptiert. Ich bin erleichtert, dass ich mir keine großen Sorgen um meine Kinder machen muss. Bei anderen Infektionskrankheiten erwischt es ja eher die Jungen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass meine Kinder im kommenden Jahr sterben, ist ohnehin gering. Wenn sie sich dagegen mit dem Corona-Virus infizieren, wird ihr Risiko zu sterben, trotzdem über ihrem herkömmlichen Risiko liegen. Die meisten Eltern fürchten sich vor sehr unwahrscheinlichen Gefahren für ihre Kinder – aber bevor wir uns sorgen, dass sie gekidnappt werden oder ertrinken könnten, sollten wir uns eher um Covid-19 Gedanken manchen.

Vielen Menschen ist die Gefahr des Virus nicht bewusst

Nicholas Christakis

Nicholas Christakis

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Für Menschen im mittleren Alter ist die Gefahr sogar wesentlich höher.

Wenn man als 40-Jähriger mit Covid-19 ins Spital kommt, liegt das Risiko zu sterben bei 2 bis 4 Prozent. Das ist ungefähr so hoch wie bei einem 70-Jährigen, der in den USA mit einem Herzinfarkt in ein Krankenhaus kommt. Auch wenn die Krankheit absolut betrachtet nicht bedrohlich ist, relativ betrachtet ist sie das durchaus. Man möchte dieses Virus nicht haben – in keinem Alter.

Warum fällt es vielen Menschen so schwer zu akzeptieren, dass das Virus gefährlich ist?

Sars-Cov-2 ist sehr heimtückisch, denn es hat eine große Spannbreite in dem, was es uns antut – es kann uns einerseits schwer krank machen, uns als Behinderte zurücklassen oder gar töten. Andererseits gibt es auch Infizierte, die milde oder gar keine Symptome haben. Wenn ein Mensch daran stirbt, wird seiner Umgebung die Gefahr bewusst. Aber es ist viel wahrscheinlicher, dass Bekannte eine Infektion sehr gut überstehen. Und so denken die Menschen in der Umgebung vielleicht – das ist harmlos. Aber das ist die falsche Schlussfolgerung. Die aktuelle Pandemie wird wahrscheinlich der zweitschlimmste Ausbruch eines Atemwegserregers nach der Spanischen Grippe 1918 sein.

Wir erleben in Europa immer stärkeren Widerstand von Menschen, die die Existenz des Virus verleugnen – keine Überraschung für Sie, wenn ich Ihr Buch richtig lese?

Infektionen verbreiten sich durch soziale Netzwerke – und die Lügen und Verleugnungen folgen ihnen direkt nach. Sie sind fester Bestandteil von Epidemien. Das ist sehr menschlich – viele Menschen wollen nicht akzeptieren, dass es eine Gefahr durch eine Seuche gibt. Für sie ist es einfacher, mit einer Epidemie umzugehen, in dem sie diese verleugnen.

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Ideologische Festlegungen verhindern, dass Menschen die Wahrheit sehen

Sehen Sie die Forschung geschwächt oder gestärkt durch die Pandemie?

Ich hoffe, dass die Menschen jetzt ein bisschen besser verstehen, dass es wichtig ist, der Wissenschaft zu vertrauen – zum Beispiel bei anderen globale Katastrophen wie dem Klimawandel. Er hat ja eine Menge mit der Pandemie gemeinsam. Ein wichtiger Unterschied ist der Zeithorizont. Wenn ein Forscher eine Vorhersage über den Verlauf der Pandemie macht, wissen wir in spätestens einem halben Jahr, ob sie falsch war. Beim Klimawandel ist die Spanne zwischen Prognose und dem Zeitpunkt, wann man das Ergebnis überprüfen kann, größer, uns fehlt das unmittelbare Feedback. Aber ich bin sicher, die Pandemie wird die Einstellung der Öffentlichkeit zur Wissenschaft bessern.

Allerdings konstatieren Sie in Ihrem Buch, dass es sowohl im rechten als auch im linken Lager Gegner der Wissenschaft gibt.

Sie haben beide Probleme mit der Wahrheit. Die Rechte mit dem Klimawandel, oder auch in der Pandemie. Etwa mit dieser Fantasie, dass Hydrochloroquin funktionieren könnte oder dass diese Pandemie lediglich so schlimm wie eine Grippe sei. Und bei der Linken dachte man wohl, wenn man für das Richtige demonstriert, also gegen die Polizeigewalt, dann wird das okay sein. Aber nein, dem Virus ist es natürlich vollkommen egal, für was man protestiert. Es verbreitet sich. Es gibt eine Menge ideologischer Festlegungen, die verhindern, dass Menschen die Wahrheit sehen – und viele Menschen haben sich eingeredet, dass die Realität ein soziales Konstrukt sei und dass man diese durch bloße Umdeutung ändern kann.

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Konstruktivismus, wie er durchaus auch an geisteswissenschaftlichen Fakultäten gelehrt wird …

Ja, aber es ist komplett abstrus, diesen philosophischen Ansatz auf eine Pandemie anwenden zu wollen. Wir können das Virus nicht wegdekonstruieren, und wir können auch nicht einfach ein neues Narrativ erfinden, dass es nicht schlimm sei und es würde dem gehorchen und ungefährlich werden. Wir können darüber debattieren, wie fähig Menschen sind, die Wahrheit zu sehen. Und natürlich ist die Art, wie wir die Wahrheit sehen, abhängig davon, wer wir sind. Wissenschaftlerinnen mögen andere Dinge sehen als ihre männlichen Kollegen. Aber das ist etwas anderes, als zu sagen, dass es keine Wahrheit gibt. Die gibt es – und wir spüren sie auf bittere Weise jetzt.

Nicholas A. Christakis Buch „Blueprint - Wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen“ erscheint als deutsche Fassung beim Fischer Verlag.

Nicholas A. Christakis Buch „Blueprint - Wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen“ erscheint als deutsche Fassung beim Fischer Verlag.

Psychische und ökonomische Erholung wird ein paar Jahre dauern

Vielleicht fällt es vielen einfach schwer, die Einschnitte ins Leben zu akzeptieren?

Wenn es einen Zeitpunkt gibt, an dem der Staat durchgreifen muss, dann während einer Pandemie. In einem freien Land sollte man mit seinem Körper tun und lassen können, was man will. Aber das hört da auf, wo dieses Verhalten andere betrifft. Wir regulieren die Geschwindigkeit auf der Straße nicht, um den Fahrer vor sich selbst zu schützen, sondern die anderen Verkehrsteilnehmer vor ihm. Das Gleiche gilt für ansteckende Krankheiten. Der Staat führt keine Maskenpflicht und keine Reisebeschränkungen ein, um Sie zu schützen, sondern andere – Sie sollten nicht die Infektion übertragen.

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In Deutschland bestimmen die Bundesländer – vergleichbar mit den US-Bundesstaaten – weitgehend, welche Corona-Maßnahmen an einem Ort gelten. Ist es aus Ihrer Sicht richtig, dass dies auf regionaler Ebene entschieden wird?

In verschiedenen Bundesländern unterschiedliche Corona-Regeln zu haben, ist, wie Menschen in einem Schwimmbecken zu erlauben, in einer Ecke urinieren zu können – und dann zu hoffen, dass sich der Urin nicht ausbreitet. Ein Virus hält sich nicht an Grenzen. Wenn ein Bundesland strikt ist und ein anderes nicht, ist das keine gute Strategie. Je mehr Menschen mitmachen, umso besser. Wir sind nicht am Beginn des Endes der Pandemie, wir sind einfach am Ende des Pandemieanfangs.

Warum so pessimistisch? Die Impfstoffe sind doch auf dem besten Weg.

Die Neuigkeiten aus der Impfforschung sind großartig. Wir haben unglaubliches Glück – unsere Pandemie tötet nur ein Prozent der Infizierten und wir haben die Möglichkeit, Impfungen zu entwickeln, die sie stoppt. Und wir können diese auch noch sehr schnell entwickeln. Rund ein Jahr nachdem dieser Erreger auf uns Menschen übergesprungen ist, werden wir uns dagegen impfen können – das ist unglaublich. Ich sage nur: In dem Moment, in dem die Vakzine zugelassen sind, ist die Pandemie noch nicht vorbei.

Der Corona Newsletter "Die Pandemie und wir" vom RND.

Die Pandemie und wir

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Aber ihr Ende ist doch dann absehbar?

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Wir müssen uns dann aber immer von den psychischen und ökonomischen Folgen erholen – das wird ein paar weitere Jahre dauern. Die Menschen werden nicht plötzlich alle wieder in Restaurants und Flughäfen zurückkehren. Nur weil ein Teil der Bevölkerung geimpft sein wird, heißt das nicht, dass das Virus weg sein wird. Dieses Virus wird niemals ausgerottet werden. Es wird für immer bleiben.

Pandemien ändern Gewohnheiten

Was verändert es gesellschaftlich?

Epidemien sind Zeiten der Trauer. Menschen sterben, andere verlieren ihre Lebensgrundlage, ihren Job, die Zeit, die sie sonst mit Freunden verbringen. Infektionskrankheiten treffen leider immer die Verletzlichsten der Gesellschaft am stärksten: die Kranken, die Armen, die Alten, die sozial Ausgegrenzten, die Minderheiten. Viele Menschen werden in der Not religiöser – es gibt keine Atheisten in Fuchsbauten, sagen wir. Heißt: Alle, die in Löchern sitzen, glauben plötzlich an Gott. Wie wir jetzt leben, fühlt sich unnatürlich an. Aber Seuchen sind nicht neu für unsere Art. Sie sind einfach neu für uns. Wir denken, es ist verrückt, was passiert, aber unsere Vorfahren hatten diese Erfahrung für Tausende von Jahren. Wir müssen uns einfach klar machen – Menschen haben früher Epidemien erlebt und künftigen Generationen wird das auch wieder passieren. Jetzt ist eben unser Moment, diese unausweichliche Erfahrung menschlicher Existenz zu machen.

Wird das Virus unseren Lebensstil nachhaltig verändern?

Das ist natürlich schwer zu sagen, aber Pandemien ändern Gewohnheiten. In den USA war öffentliches Spucken früher sehr verbreitet. Aber um 1900 herum gab es Tuberkulose-Epidemien – und deshalb kam eine Bewegung auf, die das Spucken stoppen wollte. Aber sie kam nicht wirklich voran – bis dann 1918 die Spanische Grippe kam. Dadurch bekam die Bewegung richtig Schwung. Die Spucknäpfe verschwanden aus allen Restaurants und von allen öffentlichen Plätzen – und nach der Pandemie kamen sie niemals zurück. Und niemand wundert sich heute noch darüber, niemand denkt: Verrückt, dass es keine Spucknäpfe gibt.

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Wir werden wieder gemeinsam feiern

Wie wird die jetzige Pandemie die Gesellschaft verändern?

Ich denke, der Handschlag könnte für immer verschwinden – viele Kulturen weltweit kommen ja schon ohne Berührung bei der Begrüßung aus. Geschäftsreisen werden stark abnehmen, verhandelt wird dann immer noch Angesicht zu Angesicht, aber viele Meetings werden einfach bei Zoom gemacht werden. Das Lehren an der Uni wird sich zu einem großen Teil ins Virtuelle verlagern. Von zu Hause aus zu arbeiten wird eher die Regel als die Ausnahme werden.

Werden unsere Nachfahren später auf uns schauen und sagen – bis 2020 haben die Menschen gefeiert, getanzt, getrunken und einfach so in die Gegend geatmet, verrückt, total unhygienisch? Mit andern Worten: Wird es wieder anständige Partys geben?

Natürlich, keine Sorge. In Zeiten von Pandemien fliehen die Menschen auch aus der Stadt – seit Tausenden von Jahren. Trotzdem würde ich nicht darauf wetten, dass Städte weniger attraktiv werden – sie werden zurückkommen genau wie die Partys. Nach der Spanischen Grippe kamen auch die wilden Zwanziger Jahre.

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Zur Person: Bevor Nicholas Christakis, 58, ein „intellectual rockstar“ („New York Times“) wurde, kümmerte er sich um Sterbende. Als Arzt in einem Hospiz in Chicago betreute er Mitte der Neunziger todkranke Patienten. Diese Erfahrung prägt ihn bis heute. In seiner weiteren Karriere wurde der Sohn griechischer Einwanderer, der parallel zur Medizin Soziologie studierte, Professor für Medizin-Soziologie in Harvard. 2013 wechselte er nach Yale, wo er heute Sterling Professor ist, eine Auszeichnung, die die Yale University nur an Fakultätsmitglieder vergibt, die als die Besten ihres Fachs gelten – seine wissenschaftlichen Artikel wurden allein in den letzten fünf Jahren rund 30.000 mal von Kollegen zitiert.

Aber Christakis macht nicht nur innerhalb der Forscher-Community von sich reden. Seine TED-Talks wurden mehr als 2,5 Millionen Mal angesehen, sein populärwissenschaftliches Buch „Blueprint – Wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen” (Deutsche Übersetzung im S. Fischer-Verlag, 2019) war auf der Bestsellerliste der New York Times.Während der Corona-Krise tauchte Christakis als gefragter Interviewpartner auf. Zum Experten macht Christakis, dass er als Netzwerkwissenschaftler die Ausbreitung von Infektionskrankheiten genauso erforschte wie deren Auswirkungen auf Gesellschaften. Auch zu Sars-Cov-2 publizierte er als Co-Autor eine Studie im Fachmagazin „Nature”, sein jüngstes Buch erschien dieses Jahr und heisst „Apollo’s Arrow: The Profound and Enduring Impact of Coronavirus on the Way We Live” (bislang nur auf Englisch).

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