Experten warnen: Afrika „fliegt blind“ durch die Pandemie
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Der afrikanische Kontinent – hier ein Impfzentrum in Uganda – impft weltweit am langsamsten gegen das Coronavirus.
© Quelle: Nicholas Bamulanzeki/AP/dpa
Leichenberge in den Townships von Johannesburg und siechende Patienten in Nairobis Krankenhausfluren: Es waren haarsträubende Prognosen, die Pessimisten für Afrika zu Beginn der Corona-Pandemie gestellt hatten. Eingetreten ist bisher keines der Horrorszenarien. Im Gegenteil: Offiziell sind die Fallzahlen in Afrika so niedrig wie kaum in einem anderen Gebiet auf der Welt. Und auch in punkto Corona-Toten ist Afrika mit 151.000 Fällen offiziell für gerade einmal 3 Prozent der globalen Pandemieopfer verantwortlich. Hat die Pandemie den Kontinent also verschont? Nein, meinen immer mehr Experten – und warnen vor den Folgen dieses Trugschlusses.
Sie leben zu sechst in einem kleinen Backsteinhäuschen – mehrere Generation müssen auf engstem Raum miteinander zurecht kommen. Die Wohnlage in Südafrikas Armensiedlungen, den sogenannten Townships, ist in den meisten Fällen prekär. Weil es allerorten an Geld und am Nötigsten fehlt, leben die Menschen in hygienisch unhaltbaren Verhältnissen. Ihr Wasser holen die Bewohner vieler Townships in Südafrika aus dem Gemeinschaftshahn, zur Arbeit geht es in überalterten und überladenen Zwölfsitzertaxi.
Das müsse unweigerlich abhärten, meinen einige Forscher. So hätten ausgerechnet die prekären Lebensverhältnisse und die ständige Aussetzung von coronaähnlichen Viren zu Afrikas geringer Sterblichkeit beigetragen. Dafür spreche nach ihrer Ansicht eine hohe Durchseuchung in Slums wie dem kenianischen Kibera, wo sich jeder Zweite bereits mit Covid infiziert haben soll. Auch Afrikas junge Bevölkerung spiele eine Rolle.
Virologe: Afrika mangelt es an Corona-Statistik
Doch der deutsche Virologe Wolfgang Preiser hat Zweifel an der Theorie: „Ich bin skeptisch, ob dahinter Fakten stecken oder die alte Mär vom ach so robusten Afrikaner.“ Laut dem Forscher an der Uni Stellenbosch könne diese „afrikanische Einzigartigkeit“ weder durch eine Vorimmunität noch durch klimatische oder genetische Umstände erklärt werden. Viel eher mangle es Afrika an der korrekten Corona-Statistik: „Die Erfassung in Afrika ist schlecht, und dementsprechend spiegeln die gemeldeten Zahlen nicht die wahre Situation wider.“ Selbst in Südafrika, das über ein „sehr gutes Meldesystem“ verfüge, gebe es Lücken. Während der drei Corona-Wellen etwa wurden jüngere, nur leicht Erkrankte, die zu keiner Risikogruppen zählten, erst gar nicht auf Covid getestet. Das habe die Zahlen verfälscht.
Vor allem in ländlichen Gegenden Afrikas werden Verstorbene unter die Erde gebracht, ehe sie auf das Virus getestet werden können. Und auch politisch motivierte Aufhübschungen spielen eine Rolle: In Tansania berichteten Ärzte von drakonischen Strafen, wenn sie „Covid“ auf Totenscheinen verzeichneten. Das änderte sich erst im März, nachdem der Corona leugnende Präsident John Magufuli überraschend verstorben war.
WHO: Sechs von sieben Infektionen bleiben unentdeckt
Wer das wahre Ausmaß der Pandemie auf dem afrikanischen Kontinent begreifen möchte, dem empfiehlt Preiser einen Blick auf die sogenannte Übersterblichkeit. Das ist die Differenz zwischen der Zahl tatsächlich Gestorbener und dem Mittelwert der Vorjahre. Selbst nach Abzug der offiziellen Corona-Toten liegt die Übersterblichkeit in Südafrika seit Ausbruch der Pandemie weit über allen Prognosen. Andere afrikanische Länder erfassen ihre Übersterblichkeit „gar nicht oder nur ungenügend“, so Preiser.
Bundesweite 2G-Regelung: Drosten sieht „Notfallsituation“
Angesichts der sich zuspitzenden Lage mehren sich Rufe nach Einschränkungen für Ungeimpfte sowie Warnungen vor einer zunehmenden Belastung der Krankenhäuser.
© Quelle: dpa
„Mit eingeschränkten Testmöglichkeiten befinden wir uns in zu vielen Gemeinden immer noch im Blindflug“, warnte im Oktober die Afrika-Direktorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Matshidiso Moeti. Während auf dem Kontinent fast ausschließlich Menschen mit Symptomen getestet würden, übertrügen asymptomatisch Erkrankte die meisten Infektionen. Das WHO-Büro im kongolesischen Brazzaville schätzt daher, dass in Afrika sechs von sieben Covid-Infektionen unentdeckt bleiben. Statt acht Millionen, könnte es mit Stand Oktober bereits 59 Millionen Infizierte in Afrika gegeben haben.
Viele gespendete Impfdosen nicht verschifft
„Die Pandemie lässt Afrika nicht unberührt, uns fehlen einfach die Daten“, schrieb vor Kurzem eine Gruppe von Forschern und Ethikern im südafrikanischen Gesundheitsmagazin Bhekisisa. Sie warnt vor den Folgen. Denn der „Mythos“ eines „immunen Afrikas“ könnte westlichen Pharmaunternehmen einen Vorwand liefern, weniger Impfstoffe nach Afrika zu verschiffen. Bereits jetzt impft der Kontinent von allen Regionen am langsamsten. Laut den African Centres for Disease Control (CDC) waren diese Woche weniger als 6 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft.
Richard Mihigo ist verantwortlich für Immunisierung und Impfstoffentwicklung bei der WHO in Brazzaville. Zwar begrüßt er, dass reiche Länder beschlossen haben, einen Teil ihrer Impfstoffe mit Schwellen- und Entwicklungsländern zu teilen. Jedoch gibt er zu bedenken: „Bis heute wurden bloß 47 Prozent der gespendeten Impfdosen, die wir bis Jahresende erwarten, tatsächlich verschifft.“ Die WHO will neben der Impf- auch die Testkapazität afrikanischer Länder stärken. Nur so könne laut Regionaldirektorin Moeti eine „schnelle Isolierung“ sichergestellt und die Übertragung unterbrochen werden. Bis es so weit ist, kämpfen Aktivisten, Mediziner und Medien auf dem Kontinent weiter gegen den Mythos, dass Afrika von der Seuche verschont blieb. Wie die panafrikanische Zeitschrift „The Continent“ kommentiert: „Er verhöhnt die Toten, die noch nicht einmal zu den Opfern dieser Ungerechtigkeit gezählt werden.“
RND