„Durchseuchung“ an den Schulen: Landen jetzt mehr Kinder auf den Intensiv­stationen?

Die Delta-Variante macht in der vierten Welle auch vor den jüngeren Ungeimpften nicht halt.

Die Delta-Variante macht in der vierten Welle auch vor den jüngeren Ungeimpften nicht halt.

Unter Zwölfjährige können sich nicht impfen lassen, weil kein Vakzin für sie zugelassen ist. Auch die Älteren sind noch nicht ausreichend vor dem Coronavirus geschützt. Erst 21,3 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen sind laut dem Robert Koch-Institut (RKI) vollständig geimpft – und damit gegen Covid-19 geschützt (Stand: 1. September). Und so ist die Sorge um die Kinder und Jugendlichen wieder da. Denn die Inzidenzen klettern bei den Jüngeren bereits nach oben. Schul- und Kita-Betrieb rollen nach den Sommerferien wieder an.

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Die Schulen sollen offen bleiben, betont die Politik. Viele Fachleute und Eltern warnen aber vor einer „Durchseuchung“. Gerade auch, weil anders als im vergangenen Spätsommer die so viel ansteckendere Delta-Variante unterwegs ist. Es wird erneut debattiert über Maskenpflicht, Wechsel­unterricht, die richtige Belüftung und Abstands­regeln in den Schulen.

„Statt Infektionen hinzunehmen oder zu verharmlosen, müssen bei stärkerem Infektions­geschehen unter Kindern und Jugendlichen auch mehr Schutz­maßnahmen ergriffen werden“, forderte etwa Udo Beckmann vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) gegenüber dem RND. Und der Virologe Christian Drosten sagte dem Deutschlandfunk, er gehe wie auch das RKI davon aus, dass eine gesamt­gesellschaftliche Kontaktreduktion ab Oktober erneut notwendig werden könnte.

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Ungeachtet, wo konkret welche Schutz­konzepte greifen: Dass es bei Kindern und Jugendlichen zu mehr Infektionen kommen wird, ist klar. Aber wie groß ist die Gefahr, dass es bei den Jüngeren auch vermehrt zu schweren Verläufen kommt? Droht eine Überlastung der Kinder­intensiv­stationen? Fachleute halten das für wenig wahrscheinlich. Alarmiert sind sie trotzdem – und das aus mehreren Gründen.

Deutschland: Steigt die Zahl der Kinder auf Intensiv­station durch Delta?

In Deutschland sehen wir bislang keine Zunahme schwerer Covid-19-Verläufe und Aufnahmen von Kindern mit einer Delta-Infektion auf Intensiv­stationen.

Johannes Hübner,

Professor für Kinder­infektiologie

Zunächst die Zahlen: Die Daten aus den Kranken­häusern zeigen, dass bislang nur sehr selten Kinder von einem schweren Covid-19-Verlauf betroffen sind. Rund 1700 Kinder, also Null- bis 18-Jährige, sind in Deutschland seit Pandemie­beginn stationär aufgenommen und an die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie gemeldet worden. 5 Prozent dieser Kinder waren auf Intensiv­stationen.

Das sei seit Monaten ein relativ stabiles Bild, ist sich Kinder­infektiologe Johannes Hübner, der die Datenlage zu Covid-19 und Kindern intensiv verfolgt, sicher. Und seit die ansteckendere Delta-Variante kursiert? „In Deutschland sehen wir bislang keine Zunahme schwerer Covid-19-Verläufe und Aufnahmen von Kindern mit einer Delta-Infektion auf Intensiv­stationen“, versichert der stellvertretende Klinikdirektor am Kinderklinikum der Ludwig-Maximilians-Universität in München. „Auch die Kolleginnen und Kollegen aus England berichten nicht davon“, sagte er dem RND.

Prof. Johannes Hübner befasst sich an der Kinderklinik der Ludwig-Maximilians-Universität damit, wie gefährlich Covid-19 für Jüngere ist.

Prof. Johannes Hübner befasst sich an der Kinderklinik der Ludwig-Maximilians-Universität damit, wie gefährlich Covid-19 für Jüngere ist.

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Die Krankheits­last durch Covid-19 bei den Kindern ist Hübner zufolge bislang „überhaupt kein Problem“. Auch an der eigenen Uniklinik mit großem Einzugsgebiet der Millionenstadt München seien weniger als 50 Kinder mit Covid-19 während der ganzen Pandemie stationär aufgenommen worden. „Das ist weniger als ein Kind pro Woche“, betont der leitende Oberarzt an der Kinderklinik. Bei einigen der Einweisungen sei die Infektion auch nur zufällig aufgefallen. Nur drei der Kinder seien auf der Intensiv­station gewesen, von denen keines verstarb. Alle seien am Ende gesund nach Hause gegangen.

USA: Mehr schwere Verläufe bei Kindern – was sagt das aus?

Wir werden sicherlich im Herbst und Winter ein Problem mit respiratorischen Viren haben, wahrscheinlich deutlich schlimmer als sonst.

Johannes Hübner

Eine offene Frage ist allerdings, wie sich die Zahl der schweren Verläufe entwickelt, wenn die Inzidenz noch höher steigt. „Ich halte es für ausgeschlossen, dass unsere Kinder­intensiv­stationen wegen der vierten Corona-Welle volllaufen“, sagt dazu Hübner. „Aber ich kann mir gut vorstellen, dass die normalen Betten in den Kinder­kliniken im Herbst und Winter knapp werden.“ Das habe unter anderem damit zu tun, dass sich zeitgleich weitere Infektions­krankheiten ausbreiten. Schon vor Corona seien die Kinderkliniken zu dieser Jahreszeit oft am Rande ihrer Kapazitätsgrenze. „Und auch wir werden sicherlich im Herbst und Winter ein Problem mit respiratorischen Viren haben, wahrscheinlich deutlich schlimmer als sonst“, prognostiziert der Experte.

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Anstoß für diese Sorge sind Berichte aus den USA von mehr schweren Verläufen bei Kindern nach einer Delta-Infektion. Ärztinnen und Ärzte warnten zuletzt öffentlich vor einer Überlastung der Kliniken. Welche Rolle Covid-19 beim Krankheits­verlauf spielt, ist allerdings noch nicht ganz klar – und die Lage dort nicht mit Deutschland vergleichbar. Betroffen seien in den USA vor allem ärmere Bundesstaaten, die auch insgesamt hohe Inzidenzen und niedrige Durchimpfungs­raten haben, erklärt Hübner. „Viele dieser Kinder hatten auch Mehrfach­infektionen, also mit anderen respiratorischen Viren und gleichzeitig mit dem Coronavirus.“

Plötzlich mehr Infektionen mit Influenza und dem RS-Virus gebe es, weil diese im vergangenen Winter wegen der Lockdown­maßnahmen praktisch gar nicht stattgefunden haben. „Jetzt sieht man in Deutschland, aber auch Ländern wie der Schweiz, Australien und den USA, dass diese Infektionen statt im Winter schon im Sommer vermehrt auftreten“, erläutert Hübner. „Das zeigt, dass viele Kinder im vergangenen Winter keine Immunität gegen die Erreger entwickelt haben.“ Gleich mehrere solcher Infektionen bei den Kindern führten deshalb zu den großen Wellen, die über die USA und England hereinbrechen und lokal zu Kapazitäts­problemen führen. „Deutschland ist bisher weitgehend davon verschont. Wieso, ist uns noch nicht ganz klar“, berichtet Hübner.

Unterschätzte Gefahr? Long Covid kann auch Kinder treffen

Es werden wahrscheinlich viele Patientinnen und Patienten mit Long Covid auf uns zukommen. Denn wir haben einen Großteil der Kinder nicht geimpft.

Jördis Frommhold,

Long-Covid-Expertin

Viele Kinder mit Schwerst­verläufen, ausgelöst durch Covid-19, sind also nicht zu erwarten. „Ich gehe nicht davon aus, dass die Kinder mit schwerem Covid-19 die Krankenhäuser füllen werden“, sagt auch Jördis Frommhold. Trotzdem ist die Chefärztin der Median-Klinik in Heiligendamm und Long-Covid-Expertin in Sorge. „Es werden wahrscheinlich viele Patientinnen und Patienten mit Long Covid auf uns zukommen. Denn wir haben einen Großteil der Kinder nicht geimpft.“

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Studien zufolge müsse davon ausgegangen werden, dass 10 bis 20 Prozent der mit dem Coronavirus Infizierten mit Long Covid zu kämpfen haben. „Wir werden in Deutschland also mit sehr vielen jungen Menschen zu tun haben, die ihren gewohnten Alltag nicht mehr stemmen können“, sagt Frommhold. Sie könnten dann nicht mehr regulär zur Arbeit oder zur Schule gehen. Das treffe die ganze Gesellschaft.

Jördis Frommhold ist Chefärztin der Median-Klinik in Heiligendamm.

Jördis Frommhold ist Chefärztin der Median-Klinik in Heiligendamm.

Long-Covid-Krankheits­bild noch unklar

Wachgerüttelt habe die Lungen­fachärztin und Intensiv­medizinerin vor einigen Wochen ein Anruf von einer Mutter, deren sechsjähriger Sohn sich nach einer milden Corona-Infektion plötzlich nicht mehr gut an die Hygiene­regeln in der Schule erinnern konnte. Solche Erzählungen häuften sich. In ihrer eigenen Klinik habe sie bereits 16-Jährige mit Long-Covid-Symptomatik diagnostiziert. Oft seien ganze Familien betroffen.

Vieles zum Krankheits­bild ist Wissenschaft und Medizin noch unklar. Frommhold weiß aber aus ihrer Erfahrung mit mehr als 2000 Patientinnen und Patienten, was auch eine nicht so schwer verlaufene Covid-19-Infektion mit sich bringen kann. „Viele Menschen mit mildem Verlauf haben ein bis vier Monate nach der Infektion mit Fatigue, Gelenk- und Muskel­schmerzen, kognitiven Einschränkungen und Blutdruck­entgleisungen zu kämpfen“, erklärt sie. Dafür gebe es zwar Therapie­ansätze. Aber die Erkrankung lasse sich nicht so einfach diagnostizieren und die Infrastruktur für eine Behandlung fehle im Land.

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Long Covid bei Kindern: Das Risiko eingehen oder abwarten?

Konkret zu sagen, wie viele Kinder und Jugendliche künftig von Long Covid betroffen sein könnten, sei mit den wenigen Studien schwierig. „Wir wissen eigentlich gar nicht genau, was bei Kindern nach einer mild verlaufenen Coronavirus-Infektion im Körper passiert und wie hoch das Risiko für Long Covid ist“, erläutert Frommhold. Es habe sich bereits gezeigt, dass sich das immunologische Gedächtnis bei Kindern nach der Infektion verändert. Aber auch hier ist „noch nicht klar, wie weitreichend das ist und welche gesundheitlichen Folgen Long Covid bei Kindern auslöst“, so die Medizinerin.

Im Mittel trifft Long Covid bislang laut Daten vor allem die 20- bis 50-Jährigen, zu zwei Dritteln Frauen. „Aber nur weil man nur sehr wenige Kinder und Jugendliche mit Folge­erscheinungen in der Klinik sieht, muss das nicht heißen, dass es keine Betroffenen gibt“, berichtet Frommhold. Jugendliche könnten noch klar benennen, dass ihre Leistungs­fähigkeit eingeschränkt ist und sie beispielsweise dem Schulunterricht nicht mehr so folgen können wie vor der Infektion. „Fünf- bis Siebenjährige können das aber noch nicht“, so Frommhold. „Sie können nicht kommunizieren, dass sie möglicherweise an Long Covid leiden.“

Viele jüngere Patientinnen und Patienten schämten sich auch für ihre Symptome, weil sie auf den ersten Blick gar nicht krank aussehen. Es könne sein, dass man bei Long Covid wie bei anderen chronischen Erkrankungen das ganze Leben mit Einschränkungen zu tun hat. „Das muss man ernst nehmen und frühzeitig behandeln“, so die Ärztin.

Kinderleicht: Impfen auf dem Schulhof

Bei der bundesweiten Aktionswoche zum Thema Corona-Impfung, wird sogar auf dem Schulhof geimpft. So wie an dieser Realschule in Bonn.

Vierte Corona-Welle: Wie also die Kinder schützen?

Warum sind wir so leichtfertig und diskutieren jetzt schon wieder darüber, ob es Masken im Unterricht braucht?

Jördis Frommhold,

Lungen­fachärztin

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Wegen der möglichen Gefahren durch Long Covid spricht sich Frommhold gegen unkontrollierte Coronavirus-Infektionen unter Kindern aus. Es sei sehr wichtig, weiterhin die AHA+L-Regeln in den Schulen einzuhalten. „Warum sind wir so leichtfertig und diskutieren jetzt schon wieder darüber, ob es Masken im Unterricht braucht?“, fragt sich die Medizinerin. Wer kann, solle sich impfen lassen. Das schütze nicht nur vor einem schweren Verlauf, sondern auch vor Long Covid, weil in vielen Fällen eine Infektion gestoppt werden kann.

„Meine große Hoffnung ist, dass sich durch möglichst viele geimpfte Erwachsene – also vor allem Eltern und Lehrer – auch die Jüngeren besser schützen lassen“, sagt auch Hübner. „Das halte ich auch für unsere wichtigste Aufgabe im Moment.“ Denn Übertragungs­ketten unter den Schülerinnen und Schülern in der Schule selbst seien nach wie vor die große Ausnahme.

Aber: Die Delta-Variante sei für alle Alters­gruppen ansteckender und setze nicht die Effektivität der bekannten Vorsichts­maßnahmen außer Kraft. „Abstand, gegebenenfalls Schulklassen verkleinern, in bestimmten Situationen auch die Masken tragen – das alles braucht es weiterhin neben der Impfung der Erwachsenen und auch der älteren Kinder“, betont der Kinder­infektiologe.

Schul­schließungen sollten hingegen das allerletzte Mittel sein. Das habe schwerste Folgen für die Kinder und Familien, wie die Zunahme an psychischen Problemen und Adipositas zeigten. „Wir müssen während der vierten Welle wirklich alles versuchen, um den Unterricht zu ermöglichen“, ist sich der Experte sicher. „Damit das auch klappt, müssen wir aber schon jetzt ernsthaft Prävention betreiben.“ Es gebe Leitlinien und Empfehlungen, in denen klar formuliert ist, was passieren muss, um die Schulen auch in Pandemie­zeiten offen lassen zu können. „Diese Vorgaben muss man bundesweit konsequent in den Bildungs­einrichtungen umsetzen“, fordert Hübner.

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Sein größter Wunsch sei zudem, dass sich das Narrativ von Kindern als Pandemie­gefahr endlich ändert. Kinder und Schulen seien nirgendwo der große Infektions­herd, das belegten viele Studien aus der ganzen Welt. „Sie dürfen auch nicht zu Sünden­bocken für steigende Infektions­zahlen und erkrankte Ältere gemacht werden“, so der Leiter der Kinderklinik.

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