Notbremse, Impfungen, Temperatureffekt: Wie wird unser Sommer?

Die Temperaturen klettern in den kommenden Wochen weiter nach oben – und bremsen das Virus wahrscheinlich ein Stück weit aus.

Die Temperaturen klettern in den kommenden Wochen weiter nach oben – und bremsen das Virus wahrscheinlich ein Stück weit aus.

Lange wurde gerungen, nun ist es im Bundestag beschlossen: das neue Infektionsschutzgesetz mit einer vereinbarten „Bundesnotbremse“. Sie soll greifen, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz in einer Stadt oder einem Landkreis drei Tage hintereinander über 100 Fällen pro 100.000 Einwohner liegt. Dann darf sich höchstens ein Haushalt mit einer weiteren Person treffen. Inbegriffen ist auch eine nächtliche Ausgangssperre von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens – Spaziergänge und Sport im Freien alleine sind von der Regel ausgenommen. Schulen müssen ab einem Inzidenzwert von 165 den Präsenzunterricht einstellen.

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Mit welcher Infektionsdynamik ist nun also in den kommenden Wochen zu rechnen? Worauf stellen sich Wissenschaftler und Ärzte im weiteren Verlauf der dritten Welle, im Frühling und Sommer, ein?

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Umstrittene 100er-Inzidenz: Was ist das politische Ziel?

In den kommenden Wochen heißt es für einen Großteil des Landes erst einmal weiter: Zähne zusammenbeißen. Denn die Bundesnotbremse ist an die Kennzahl der Sieben-Tage-Inzidenz gekoppelt. Bei einem Wert über 100 greift sie in einem Kreis. Aktuell überschreiten 359 von 412 Kreisen den RKI-Daten zufolge, Stand Dienstag, diesen Wert.

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Vorerst ist die Regelung bis Ende Juni befristet. Wissenschaftler weisen allerdings bereits jetzt schon darauf hin, dass sich die Sieben-Tage-Inzidenz mit dem Fortschreiten der Impfungen und der Teststrategie immer weniger zur Beurteilung der Infektionslage eignen könnte. Der Epidemiologe Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig schlägt daher als einen weiteren Orientierungswert die Zahl der Intensivstation-Neuaufnahmen binnen sieben Tagen vor. Die Zahl der Infektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche korreliere bereits jetzt nicht gut mit der Lage, sagte er im Gespräch mit dem Science Media Center. Der Wert könne Risiken sowohl über- als auch unterschätzen.

Die Modelliererin und Physikerin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation sieht noch ein weiteres Problem. Das Ziel der Eindämmungsmaßnahmen werde im Infektionsschutzgesetz nicht ersichtlich. „Die Kernfrage bleibt: Ist die Orientierungsmarke die Belastung der Intensivstationen, oder ist das Ziel eine niedrige Inzidenz, um das Infektionsrisiko und die möglichen Spätfolgen (Long Covid) gering zu halten?“, schreibt sie am Freitag auf Twitter. „Keine klare Linie bei den Entscheidern. Dadurch könnten die Maßnahmen verpuffen.“

Ausgangssperre, weniger Kontakte: Was bringt die Notbremse?

Ob verschärfte Maßnahmen etwas bringen, hängt weniger von den aktuellen Fallzahlen ab als vielmehr von ihren Auswirkungen auf die effektiven Kontaktraten.

Jan Fuhrmann

Modellierer am Forschungszentrum Jülich

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Doch welchen Effekt hätte die Notbremse überhaupt? „Im optimistischsten Szenario sehen wir unter Beibehaltung der derzeitigen Mobilitäts- und Kontaktraten in den kommenden Wochen ein Verharren der Inzidenzwerte nahe dem derzeitigen Niveau und anschließend eine langsame Abnahme“, erläutert der Mathematiker Jan Fuhrmann, der am Forschungszentrum Jülich mit weiteren Kollegen mögliche Szenarien zum weiteren Pandemieverlauf berechnet. „Ob verschärfte Maßnahmen etwas bringen, hängt weniger von den aktuellen Fallzahlen ab als vielmehr von ihren Auswirkungen auf die effektiven Kontaktraten.“ Doch hier herrscht noch einige Unklarheit.

„Wie das zum Beispiel auf Ausgangssperren in der aktuell geplanten Ausprägung zutrifft, ist nicht ganz klar“, sagt Fuhrmann dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Frage ist: Wie verändert die Ausgangssperre das Verhalten der Menschen? Wenn man zum Beispiel davon ausgeht, dass der wesentliche Effekt von Ausgangssperren darin besteht, dass Treffen in privaten Räumen nicht stattfinden, weil der Weg dahin oder der Rückweg von dort nicht möglich ist, stellt sich die Frage: Wie viele solcher Treffen fallen tatsächlich durch eine Ausgangssperre weg, wenn der Heimweg einfach als Spaziergang deklariert werden kann?

Fuhrmann geht zudem nicht unbedingt davon aus, dass das optimistische Szenario so eintritt. Sondern „dass die Zahlen noch weiter steigen, bevor eine Stabilisierung eintritt.“ Zwar habe sich über die Osterferien ein deutlicher Rückgang der Mobilität gezeigt, von dem sei in den letzten Tagen aber nichts mehr zu sehen. „Die Auswirkungen dieses Rückgangs sehen wir in den aktuellen Inzidenzwerten, während die nach Ostern wieder gestiegene Mobilität sich in den Zahlen der kommenden Tage auswirken dürfte“, berichtet Fuhrmann. Es bleibe abzuwarten, wie stark vereinzelt gezogene Notbremsen diesem Effekt entgegen wirken können. In Bundesländern, die schon jetzt die vereinbarte Notbremse umsetzen, seien keine nennenswerten Effekte zu erwarten.

Brennpunkt Intensivstation: Mitte Mai könnte es besser werden

Besonders die Lage auf den Intensivstationen hat in den vergangenen Tagen große Sorgen ausgelöst. Die gute Nachricht: Modellierer Fuhrmann geht davon aus, dass die Impfungen hier für „etwas Linderung“ sorgen, da die Zahl der infizierten Risikopersonen abnehme. „Wenn sich das Ausbreitungsverhalten seit Ostern bis Mai nicht wesentlich ändert, rechnen wir mit einem weiteren nicht exponentiellen Anstieg der Intensivbettenbelastung und ab Mitte Mai deutschlandweit mit einem Rückgang der Belastungen durch den einsetzenden Impfeffekt“, prognostiziert auch der Mathematikprofessor Andreas Schuppert von der Technischen Universität Aachen (RWTH).

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Das Durchschnittsalter liegt bei rund 60 Jahren, lokal auch noch jünger.

Andreas Schuppert

Mathematiker an der RWTH Aachen

„Seit Ostern sehen wir deutschlandweit einen bremsenden Effekt, den wir auf die Kontaktreduzierung durch Osterferien, in denen Schulen geschlossen waren und Arbeitnehmer Urlaub hatten, zurückführen können“, berichtet der Wissenschaftler dem RND. Er berechnet für die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) mögliche Szenarien der Bettenbelegung in den Kliniken. „Allerdings gibt es deutschlandweit deutliche Unterschiede“, vermerkt Schuppert. So zeigten Regionen wie Schleswig-Holstein schon vor Ostern ein unterdurchschnittliches Wachstum bei der Intensivbettenbelegung, Thüringen oder Köln seien dagegen überdurchschnittlich betroffen. Auch die Bremswirkung durch Ostern sei lokal unterschiedlich.

Eine Unsicherheit für die Prognosen ist jedoch die Virusvariante B.1.1.7, „da die Krankheit jüngere Menschen betrifft und die Liegezeiten beeinflusst“, erläutert Schuppert. Die Daten zeigten, dass die Intensivmediziner in der dritten Welle im Schnitt deutlich jüngere Patienten deutlich länger auf den Intensivstationen behandeln. „Das Durchschnittsalter liegt bei rund 60 Jahren, lokal auch noch jünger“, berichtet Schuppert. Ein Grund hierfür seien zum einen die Impfungen, die schwere Verläufe bei Hochbetagten und zunehmend auch bei den über 60-Jährigen selten machen und zu einer Verschiebung hin zu jüngeren Patienten führen. „Es gibt allerdings auch Hinweise aus Studien, dass die B.1.1.7-Mutante bei Jüngeren ein höheres statistisches Risiko für schwere Verläufe als der Wildtyp generiert“, sagt Schuppert.

Von zunehmend jungen Covid-19-Patienten berichtet auch der Leiter des Divi-Intensivregisters, Prof. Christian Karagiannidis. „Wir sehen das gerade bei uns in Köln: Es sind die Berufstätigen, die gerade auf der Intensivstation liegen“, sagte der Oberarzt des Klinikums Köln-Merheim im Gespräch mit dem Science Media Center. Die Entwicklung bereite ihm aktuell Bauchschmerzen. Auch er vermute, dass die veränderte Altersstruktur bei den Krankenhauseinweisungen mit der Variante B.1.1.7. zusammenhängen könnte – aussagekräftige Daten für ganz Deutschland dazu fehlten aber aktuell.

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Welchen Effekt haben die Impfungen?

Bei einer Impfquote von 20 Prozent haben wir noch keinen großen, signifikanten Einfluss auf das Infektionsgeschehen, auf die Fallzahlen.

Carsten Watzl

Immunologe

In Deutschland ist inzwischen jeder Fünfte mindestens einmal gegen Corona geimpft – und die Zahl wächst stetig. Sind also bald Lockerungen möglich? „Bei einer Impfquote von 20 Prozent haben wir noch keinen großen, signifikanten Einfluss auf das Infektionsgeschehen, auf die Fallzahlen“, sagt Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Mit den bisherigen Impfungen hätten vor allem die Menschen mit dem höchsten Risiko für schwere und tödliche Verläufe einen Schutz. Die Erstimpfung biete einen guten Schutz vor schweren Verläufen, aber Ansteckungen seien weiterhin möglich.

„Bei Menschen über 60 und Menschen mit Vorerkrankungen haben wir gerade erst angefangen zu impfen. Das wird noch eine Weile dauern“, betont Watzl. Den Schutz dieser großen Gruppe aufzubauen sei in der dritten Welle aber durchaus möglich. Bei einer Impfquote von 70 bis 80 Prozent in den Risikogruppen werde sich die Belegung der Intensivstationen merklich reduzieren, ein Freifahrtschein für Lockerungen sei das allerdings noch immer nicht. „Sonst bekommen wir riesige Inzidenzen in der übrigen ungeimpften Bevölkerung“, erklärt Watzl. „Deren Risiko für eine schwere Erkrankung ist ja nicht null. Bei einer hohen Zahl an Fällen würde es weiter zu einer großen Krankenhausbelegung kommen. Wir können es nicht so laufen lassen.“ Derzeit gar nicht geimpft werden können beispielsweise Kinder und Jugendliche bis 16 Jahren.

Weitere gute Nachrichten:

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  • Beobachtungsstudien belegen, dass sich das von Geimpften ausgehende Übertragungsrisiko stark verringert. Eine Impfung verhindert also nicht nur einen schweren Covid-19-Verlauf, sondern verhindert sehr wahrscheinlich auch Sars-CoV-2-Infektionen, und zwar „in einem erheblichen Maße“, wie das Robert Koch-Institut (RKI) auf seiner Homepage vermerkt.
  • Sämtliche Lieferprognosen sind zwar mit Unsicherheiten behaftet – aber das Bundesgesundheitsministerium geht davon aus, dass es in den kommenden Wochen auf jeden Fall mehr Impfstoff geben wird. Im zweiten Quartal 2021 sei mit rund 70 Millionen Covid-Impfdosen zu rechnen – und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn betonte erneut, ein Impfangebot für alle sei bis Ende des Sommers realistisch. Auch die Lieferungen von Johnson & Johnson werden wieder aufgenommen, nachdem die Europäische Arzneimittelbehörde nach der Prüfung eines Thromboserisikos erneut grünes Licht für das Vakzin gegeben hat.

Im Frühling und Sommer wird es wärmer: Der Temperatureffekt

Auch der saisonale Effekt spielt uns in die Karten. Die Temperaturen klettern in den kommenden Wochen weiter nach oben – und bremsen das Virus wahrscheinlich ein Stück weit aus. „Die Witterung dürfte einen Beitrag liefern, indem zum Beispiel private Treffen zunehmend ins Freie verlagert werden können und auch in Innenräumen seltener wegen zu niedriger Außentemperaturen aufs Lüften verzichtet wird“, sagt Modellierer Fuhrmann. Starke Übertragungsdynamiken sind dem Robert Koch-Institut zufolge aber über das ganze Jahr hinweg möglich. „Dennoch beeinflusst das Zusammenspiel von Faktoren, welche die Saisonalität bei anderen saisonalen Viren bedingen, wahrscheinlich auch den Verlauf der Sars-CoV-2 Dynamik“, heißt es im RKI-Steckbrief zum Erreger.

Entscheidend seien neben der Temperatur auch Umweltfaktoren wie Sonnenlicht, UV-Strahlung, Wind und Luftfeuchtigkeit. Aber auch, inwieweit die Menschen sich drinnen oder draußen treffen, wie stark ihr Immunsystem und ihr Vitamin D-Status ist. „Auf Basis des Zusammenspiels dieser Faktoren ist die Übertragungsdynamik im Winter tendenziell stärker und etwas abgeschwächter als im Sommer“, resümiert das RKI den Forschungsstand. „Aufgrund der fehlenden Grundimmunität in weiten Teilen der Bevölkerung sind größere Ausbrüche aber auch im Sommer möglich, was Maßnahmen zur Pandemieeindämmung weiterhin notwendig macht.“

Immun-Escape-Varianten: Der Unsicherheitsfaktor durch Mutationen

Wir müssen jetzt aufpassen, dass nicht massiv die Variante P.1. aus Brasilien eingetragen wird, während wir jedoch anerkennen müssen, dass wir die schon längst im Land haben.

Christian Drosten

Virologe

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Die Corona-Varianten bleiben weiterhin der größte Unsicherheitsfaktor im Pandemiegeschehen. Impfstoffhersteller wie Biontech sind deshalb auch schon dabei, die nächste Generation ihrer Vakzine zu entwickeln. Dass Auffrischungsimpfungen nötig sein werden, um einen ausreichenden Schutz zu gewährleisten, damit rechnet auch das Paul Ehrlich-Institut.

Jüngstes Beispiel: In Indien setzt sich derzeit die neue Variante B1.617 massiv durch, auch gegen B1.1.7. Möglicherweise könnten Geimpfte und Genesene vor einer Ansteckung mit dieser Variante weniger gut geschützt sein. In Deutschland sind laut RKI insgesamt acht aus dem März stammende Sequenzen dieser Linie gefunden worden.

Auch der Charité-Virologe Christian Drosten geht davon aus, dass solche Immun-Escape-Varianten schon in der Bevölkerung lauern, wie etwa die brasilianische Variante. „Wir müssen jetzt aufpassen, dass nicht massiv die Variante P.1. aus Brasilien eingetragen wird, während wir jedoch anerkennen müssen, dass wir die schon längst im Land haben“, sagte der Wissenschaftler Mitte April im NDR Info-Podcast.

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Drostens Sommerprognose: Es werde zwar einen Aufbau von Immunität in Teilen der Bevölkerung geben, in der teilweise noch nicht geimpften Bevölkerung werde es aber weiter zu B.1.1.7-Infektionen kommen. „Und diese Infektionen werden zwangsläufig zum Sommer hin und dann nach der Urlaubspause auch gerade wieder zum Herbst und zu den kälteren Temperaturen hin leider wieder zunehmen“, erläuterte der Virologe im Podcast.

Drosten geht davon aus, dass ein echter Bevölkerungseffekt bei den Impfungen, wie man ihn derzeit in Großbritannien beobachten kann, in Deutschland über den Sommer und damit sehr spät kommen werde. „Die Unsicherheit ist einfach sehr groß bei diesen Schätzungen“, so Drosten. Denn in Modellrechnungen könne man nur schlecht die Bürokratie, Politik und das Verhalten der Bevölkerung einberechnen.

mit Material von dpa

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