„Politisches Totalversagen“: Wie sich die Schweiz zum Corona-Brennpunkt entwickelt hat

Erst Monate nach dem ersten Lockdown verordnete die Schweiz eine Maskenpflicht.

Erst Monate nach dem ersten Lockdown verordnete die Schweiz eine Maskenpflicht.

Aus dem Pralinengeschäft weht süßer Duft in die Bahnhofspassage. Vor dem Laden wartet ein halbes Dutzend Männer und Frauen, tief unter der Berner Innenstadt. Zwei der Schokoladenliebhaber tragen keine Maske. „Die Leute lassen sich durch Corona nicht die Lust auf unsere Leckereien verderben“, sagt die Verkäuferin und packt Pralinen ab.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Auch vor einer Fast-Food-Kette herrscht Andrang. Daneben, in einem italienischen Café, flitzen Kellnerinnen zwischen gut besetzten Tischen hin und her. An diesem kalten Tag im frühen November 2020 tummeln sich die Menschen auch oberhalb der Passage: Die Berner Altstadt ist voll, rund um den Käfigturm, in den pittoresken Gassen und in etlichen Geschäften und Bistros kommen sich Passanten und Gäste nahe. Gefährlich nahe.

10.000 Neuinfektionen täglich – bei knapp 8,6 Millionen Einwohnern

Eigentlich müssten alle diese Menschen in Bern nach den neuesten Anti-Corona-Bestimmungen der Schweizer Regierung einen Mund-Nasen-Schutz überziehen. Doch viele Münder und Nasen sind frei. Selbst in der Schweizer Bundesstadt hält sich nicht jeder an die landesweit geltende Maskenpflicht für Läden, Gastronomiebetriebe und „belebte Fußgängerbereiche“.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Nötig wäre das schon. Denn die Eidgenossenschaft hat sich binnen weniger Wochen zu einem internationalen Brennpunkt der Corona-Epidemie entwickelt. „Es ist fünf vor zwölf“, rief Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga bereits Mitte Oktober ihren Landsleuten zu. Kurz darauf schrieb die Redaktion von Tamedia über die Fallzahlen in der Schweiz: „Das Tempo ist fast Weltspitze.“

In der ersten Woche des Novembers meldete das Bundesamt für Gesundheit mehrmals täglich über 10.000 bestätigte Covid-19-Neuinfektionen. Für ein Land mit 8,6 Millionen Einwohnern markiert das einen alarmierenden Wert. Zum Vergleich: In Deutschland leben rund zehnmal mehr Menschen als in der Schweiz. Doch kommt die Bundesrepublik derzeit auf Werte, die, grob gerechnet, etwa zweimal bis dreimal so hoch ausfallen wie die Schweizer Zahlen.

Der Corona Newsletter "Die Pandemie und wir" vom RND.

Die Pandemie und wir

Der neue Alltag mit Corona: In unserem Newsletter ordnen wir die Nachrichten der Woche, erklären die Wissenschaft und geben Tipps für das Leben in der Krise – jeden Donnerstag.

Mit meiner Anmeldung zum Newsletter stimme ich der Werbevereinbarung zu.

Knappe Testkapazitäten und volle Intensivstationen

Auch im Corona-Vergleich mit anderen EU-Ländern schneidet die Schweiz schlecht ab. Und weiter: Seit Beginn des Corona-Ausbruchs in der Eidgenossenschaft im Februar steckten sich nachweislich mehr als 250.000 Menschen an, Stand 12. November. Davon entfielen allein auf die Tage ab dem 29. Oktober 97.000 Fälle.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Ebenso wanken andere Abschnitte der helvetischen Corona-Front: Testkapazitäten werden knapp, die Intensivstationen füllen sich, die Zahl der erfassten Todesfälle betrug zuletzt schockierende 107 innerhalb eines Tages. Zwar sank in dieser Woche (ab dem 9.11.) die Zahl der erfassten Neuinfektionen wieder in den vierstelligen Bereich, doch Gesundheitsminister Alain Berset muss gestehen: „Die Lage bleibt ernst.“

Sorglosigkeit der Schweizer beschleunigte die Ausbreitung

Es ist derselbe Berset, der vor gut einem halben Jahr, als die erste Covid-19-Welle abebbte, den Schweizern versicherte: „Wir können Corona.“ Im Juni registrierte die Regierung, der Bundesrat, nur noch vereinzelte Ansteckungen. Das Kabinett hob die scharfen Restriktionen des ersten Lockdowns schrittweise auf. Und die Schweizer fassten wieder Mut, die Wirtschaft wieder Tritt.

Doch nun rollt die zweite Corona-Welle über das Alpenland. Und die Menschen fragen sich: Wer trägt die Verantwortung für die eskalierende Krise? Wie kann die reiche, durchorganisierte Schweiz mit einem international herausragenden Gesundheitssystem so scheitern?

Die Antworten reichen vom Politikversagen über den berüchtigten Kantönligeist bis zu den sinkenden Temperaturen. Und: Zwischen Bodensee und Genfersee grassierte lange eine nahezu ansteckende Sorglosigkeit. Die vielen Partys und Feste, draußen und drinnen, sowie feuchtfröhliche Nächte in Klubs, Bars und Discos beschleunigten die Corona-Ausbreitung.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Exponentielle Ausbreitung wie Anfang März

Bei einem Jodelfest im Kanton Schwyz zirkulierte das Virus, viele Besucher infizierten sich. Bei einer Hochzeit mit 200 Gästen in der Appenzeller Gemeinde Schwellbrunn feierten Gäste, die Covid-19-Symptome aufwiesen. „Das macht mich traurig, entsetzt und wütend“, konnte Schwellbrunns Gemeindepräsident Ueli Frischknecht nur noch hervorbringen. Auch die behutsamen Schwestern des Klosters Cazis in Graubünden waren vor dem Virus nicht gefeit. Anfang November meldete die Priorin von Cazis, dass mehr als ein Dutzend der Dominikanerinnen erkrankt sei.

Als weiterer natürlicher Faktor kommen sinkende Temperaturen ins Spiel: Der Epidemiologe Matthias Egger bestätigt gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland: „Mit dem kalten Wetter, bei dem sich die Leute wieder vor allem in Innenräumen aufhalten, haben wir eine exponentielle Ausbreitung ähnlich wie Anfang März.“

Das kleinteilige föderale System behindert das Krisenmanagement

Vor allem aber zeigen Schweizer Politiker nicht immer den nötigen Biss, oft zögern sie. Viele EU-Staaten reagierten viel drastischer als die Schweiz. Der Epidemiologe Christian Althaus beklagt „das politische Totalversagen der Schweiz“. Keine Verantwortlichkeiten seien auf irgendeiner Stufe zu sehen, schrieb Althaus, der in der nationalen Schweizer Covid-19-Science-Task-Force sitzt.

Zumal das kleinteilige föderale System der Schweiz ein erfolgreiches Krisenmanagement behindert: Im Juni gab der Bundesrat die „Hauptverantwortung“ für den Kampf gegen Covid-19 zurück an die 26 Kantone. Seither ordnet die Regierung nur noch national geltende Mindestvorgaben an.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Jeder Kanton ist befugt, darüber hinauszugehen. Jedoch kann von einer abgestimmten Strategie der stolzen Gliedstaaten nicht die Rede sein. So sind im Kanton Genf die Friseursalons geschlossen. Im benachbarten Kanton Waadt dürfen die Figaros weiter ihre Kunden bedienen. Die Folge: Die Bewohner von Genf fahren für einen Haarschnitt in die Waadt. Und Genfer Coiffeure helfen in der Waadt aus.

Schon während des ersten Lockdowns gingen wichtige Entscheidungsprozesse zu langsam voran

Ebenso läuft auf Bundesebene einiges schief. Beispiel Maskenpflicht. Während des gesamten ersten Lockdowns wollte der Bundesrat von einem obligatorischen Tragen des Mund-Nasen-Schutzes nichts wissen. Erst Anfang Juli führte die Regierung die Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr ein. Es dauerte mehr als zwei Monate, bis das Kabinett die Maskenverordnung verschärfte und sie auch für Läden und Fußgängerzonen anordnete.

Beispiel Großveranstaltungen. Der Bundesrat verbot Ende Februar 2020 Events mit mehr als 1000 Personen. Im August, die Infektionen gingen langsam wieder nach oben, warnte der Chef der Covid-19-Task-Force, Martin Ackermann: „Bewilligungen von Großveranstaltungen liegen in dieser heiklen Situation nicht drin.“

Schnelle Ausbreitung besonders im Oktober

Anfang September, als Befürchtungen über eine zweite Welle die Schweiz erfassten, entschied die Regierung: „Das Verbot für Großveranstaltungen mit über 1000 Personen wird unter strengen Auflagen per 1. Oktober 2020 aufgehoben.“ Fußball- und Eishockeyvereine mit Profiteams hatten dafür getrommelt. Wie stark die 1000-plus-Treffen die Corona-Krise eskalieren ließen, ist unklar. In jedem Fall breitete sich im Oktober das Coronavirus rasant aus.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Am 28. Oktober ruderte der Bundesrat wieder zurück. Er untersagte in der gesamten Schweiz die Großevents mit mehr als 1000 Menschen. Jetzt gilt eine Obergrenze von 50 Personen für Veranstaltungen. Gesundheitsminister Berset nennt diesen Zickzackkurs einen „Mittelweg“. Und er gibt freimütig zu: „Wir haben keine Garantie, dass dieser Weg funktioniert.“

Auch in der Schweiz mangelt es an Pflegepersonal

Auch die vielen Scharmützel zwischen dem Bundesrat und den Kantonen bremsen einen erfolgreichen Kampf gegen Corona. So ermahnt Gesundheitsminister Berset die Gliedstaaten, nicht notwendige Operationen und Behandlungen zu verschieben. Dadurch will er Intensivbetten für Covid-19-Patienten frei halten. „Es gibt Kantone, die noch immer ein Vollprogramm an Wahleingriffen fahren“, ärgert sich Berset. Tatsächlich werden die Intensivbetten immer knapper.

Beim Personal wird es ebenso eng. „Die Realität wird uns zeigen, dass vermutlich nicht die Ausstattung fehlen wird, sondern vielmehr das Pflegepersonal, das am Bett dieser Patienten stehen muss“, erläutert Stefan Hofer, Sprecher der Schweizer Armee, gemäß Tamedia. Fachleute der Streitkräfte berechnen derzeit die Kapazitäten in den Krankenhäusern für die Schweizer Regierung; angesichts des Notstandes musste die Armee im Gesundheitswesen einspringen. Doch selbst die Mobilisierung der bis zu 2500 helvetischen Soldaten bringt keine anhaltende Entspannung – denn die Uniformierten können kaum als Intensivpfleger eingesetzt werden.

Mehr aus Gesundheit

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken