Wie gefährlich ist die aktuelle Corona-Lage? Sechs Fragen, sechs Antworten
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Maske tragen, Abstand halten, Kontakte reduzieren: Auch in diesem Winter bleibt das wohl unerlässlich.
© Quelle: imago images/Sabine Gudath
Von „erschreckenden Zahlen“ hat bei der Bundespressekonferenz in dieser Woche der Impfstoffforscher Leif Erik Sander gesprochen. Was er damit meint: Die Lage spitzt sich spürbar zu. Auf den am Donnerstag gemeldeten Rekordwert von knapp 34.000 Menschen mit einer Corona-Neuinfektion folgten am Freitag bereits 37.120. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz hat einen Wert von fast 170 erreicht. Und es gibt auch wieder mehr Tote im Zusammenhang mit Covid-19. Allein am Donnerstag wurden 169 Todesfälle gemeldet.
Die Gefährdung für die Gesundheit schätzt das RKI für nicht oder nur einmal Geimpfte inzwischen als „sehr hoch“ ein, für vollständig Geimpfte weiterhin als „moderat“. Die ernüchternde Nachricht dahinter: Es gibt Anfang November deutlich mehr registrierte Infektionen als im gleichen Zeitraum des Vorjahres – und das trotz der 67 Prozent vollständig Geimpfter im Land.
Es sieht auch nicht so aus, dass sich dieser Trend in den kommenden Wochen ändern würde. Mehr noch: Expertinnen und Experten befürchten, dass die Lage noch angespannter wird, sich der Anstieg der Fallzahlen fortsetzen wird.
1) Wie hart wird der Winter?
„Die aktuelle Entwicklung der Lage ist sehr besorgniserregend, und es ist zu befürchten, dass es zu einer weiteren Zunahme schwerer Erkrankungen und Todesfälle kommen wird“, heißt es im Wochenbericht des RKI, der an diesem Donnerstag veröffentlicht wurde. Ohne Gegensteuern könnten auch die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten überschritten werden. Schon jetzt gibt es auf den Intensivstationen einen deutlichen Anstieg der Fälle mit Covid-19. 2226 Menschen werden dort, Stand 3. November, behandelt. Das sind 458 mehr als in der Vorwoche.
Der Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), Stefan Kluge, fürchtet bereits, dass geplante Eingriffe in Kliniken bald vermehrt abgesagt werden könnten. „Im Moment ist das bei uns noch nicht so, aber wenn ich mir die Zahlen anschaue, gehe ich davon aus, dass auch in Hamburg in den kommenden Wochen OPs verschoben werden“, sagte der Mediziner der „taz“ (Donnerstag) in Hamburg.
„Es ist nicht auszuschließen, dass wir an Weihnachten wieder einen Lockdown haben könnten, wenn wir so weitermachen wie bisher“, sagte der Virologe Stephan Ludwig von der Universität Münster angesichts der Infektionsdynamik im RND-Gespräch. „Ich sage nicht, dass ein Lockdown unvermeidbar ist, aber es ist im Bereich des Möglichen.“ Die Politik habe zwar gesagt, es wird keinen erneuten Lockdown geben, „aber wenn die Krankenwagen vor den Kliniken Schlange stehen, dann müssen Maßnahmen ergriffen werden“.
Es sieht auch nicht danach aus, dass sich kurzfristig noch viele Menschen erstmalig impfen lassen. Die Impfquote dümpelt seit Wochen auf ähnlichem Niveau. Eine Forsa-Umfrage von Ende Oktober zeigt, dass sich ein Großteil der Ungeimpften nur sehr schwer überzeugen lässt.
2) Welche Maßnahmen sind im Alltag notwendig?
Diese Maßnahmen sind in der aktuellen Situation aufgrund des hohen Infektionsdrucks auch für Geimpfte und Genesene (auch bei Veranstaltungen oder Treffen unter 3G- und 2G-Bedingungen!) wichtig.
Aus dem RKI-Wochenbericht
Das RKI pocht auf zwei Dinge: Zum einen darauf, dass sich mehr Menschen impfen lassen sowie insbesondere Ältere und Immungeschwächte für eine Auffrischimpfung entscheiden. Zum anderen auf Schutzregeln im Alltag für alle, weil auch alle das Virus übertragen können. Unabhängig vom Impf-, Genesenen- oder Teststatus sollte man Maske tragen, Abstand halten und regelmäßig Lüften. Auch Kontakte sollten wieder möglichst reduziert werden, insbesondere in Innenräumen und bei Superspreadingevents. Bei leichten für Atemwegserkrankungen typischen Symptomen sollte man zu Hause bleiben und Hausärztin oder Hausarzt für eine Testung kontaktieren.
„Diese Maßnahmen sind in der aktuellen Situation aufgrund des hohen Infektionsdrucks auch für Geimpfte und Genesene (auch bei Veranstaltungen oder Treffen unter 3G- und 2G-Bedingungen!) wichtig, um die Ausbreitung von Sars-CoV-2 und auch anderer Erreger wie Influenza und RSV, zu bremsen und schwere Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern“, betont die Gesundheitsbehörde.
3) Wo sind in Deutschland die Hotspots?
Das korreliert ganz eindeutig mit dem Impfniveau.
Markus Scholz,
Epidemiologe
In ganz Deutschland explodieren die Fallzahlen. In über der Hälfte der Landkreise liegt die Sieben-Tage-Inzidienz über 100, in 65 Landkreisen über 250. Schaut man auf die Bundesländer, gibt es in Thüringen, Sachsen und Bayern so viele Corona-Fälle wie sonst nirgends in der Republik. Die Deutschland-Karte des Robert Koch-Instituts zeigt vor allem den Südosten dunkelrot. In Thüringen lag sie mit 386,9 mehr als doppelt so hoch. Sachsen war fast gleich auf mit 385,7, danach Bayern mit 256,8. In etlichen Landkreisen der drei Länder liegt der Wert über 500, im oberbayerischen Landkreis Miesbach sogar über 700.
„Das korreliert ganz eindeutig mit dem Impfniveau“, sagt der Leipziger Epidemiologe Markus Scholz, der vor allem die Lage in Sachsen analysiert. Das Bundesland ist beim Impfen Schlusslicht: 56,9 Prozent der Bevölkerung waren Stand Donnerstag vollständig geimpft, im Vergleich zu 66,9 Prozent bundesweit. Thüringen lag mit 60,9 Prozent ebenfalls unterm Schnitt, ebenso wie Bayern mit 64,8 Prozent. Niedrige Impfquote bedeute eindeutig höhere Infektionsraten, so der Experte. Weitere Effekte könnten Fachleuten zufolge in diesen Bundesländern aber ebenso eine Rolle spielen: die späte Reiserückkehr, der Beginn der kalten Jahreszeit und der engere Kontakt in Innenräumen.
4) Wo gibt es vermehrt Ausbrüche?
Oftmals bleibt den Behörden vor Ort rätselhaft, wo sich die Menschen mit Corona anstecken. „Das Infektionsgeschehen ist diffus“, hieß es beispielsweise aus dem Landratsamt im Hotspot Miesbach. Kontrollieren könne man das nicht mehr, die Zahlen stiegen exponentiell. Kontakte würden nicht mehr nachverfolgt, auch Quarantäneanordnungen nicht mehr überprüft. Der RKI-Wochenbericht beleuchtet immerhin drei verschiedene Settings:
- Medizinische Einrichtungen, Alten- und Pflegeheime: In der Meldewoche kamen 118 Ausbrüche in Krankenhäusern mit 792 neuen Covid-Fällen, 135 Ausbrüche in Alten- und Pflegeeinrichtungen mit 1264 Fällen vor. Auch Geimpfte waren dem RKI-Wochenbericht zufolge betroffen. Da vor allem Ältere ein Risiko für Covid-19 tragen und der Impfschutz bei ihnen geringer ausfallen und mit der Zeit nachlassen kann, empfiehlt die Stiko gerade bei steigenden Infektionszahlen eine Auffrischimpfung.
- Schulen: Die Zahl der übermittelten Schulausbrüche nahm von Angang August bis Anfang Oktober sehr deutlich zu. Seit Mitte Oktober gibt es einen Rückgang – der vermutlich mit den Herbstferien zusammenhängt. In den letzten vier Wochen gab es 753 Ausbrüche.
- Kitas: Die Zahl der Ausbrüche in Kitas blieb bisher noch deutlich unter dem Niveau der zweiten und dritten Welle. Im Schnitt werden seit September bundesweit rund 65 Ausbrüche pro Woche gemeldet. Die letzten zwei Wochen können allerdings wegen Nachmeldungen nicht gut bewertet werden, bemerkt das RKI.
5) Welche Altersgruppen sind besonders betroffen?
In allen Altersgruppen ist die Sieben-Tage-Inzidenz im Vergleich zur Vorwoche bundesweit deutlich angestiegen. Eine Gruppe sticht besonders hervor: Bei den Zehn- bis 14-Jährigen ist die Inzidenz von 240 auf 356 gesprungen. Ein sprunghafter Anstieg mit doppelt so hoher Inzidenz im Gegensatz zu den Vorwochen zeigt sich aber auch bei den über 80-Jährigen. Was ein Problem ist: Denn diese haben nach wie vor das höchste Risiko, bei einer Infektion ins Krankenhaus zu müssen. Rund 13 Prozent der über 60-Jährigen haben zudem noch keinen Impfschutz, und auch die symptomatischen Infektionen mit Krankenhausbehandlung trotz Impfung kommen in dieser Gruppe am häufigsten vor.
Dass es die Älteren am härtesten trifft, zeigt auch ein Blick auf die Todesfälle: 86 Prozent aller Toten im Zusammenhang mit dem Coronavirus waren bisher über 70 Jahre alt. Es kann aber auch Jüngere treffen: In der Gruppe der 15- bis 59-Jährigen hat die Anzahl der Infektionen – und in der Folge auch Hospitalisierungen in den letzten zwei Wochen ebenfalls zugenommen. Und bei den Jüngsten unter 20 Jahren sind dem RKI bislang 29 Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 übermittelt worden. Bei 19 davon gab es Vorerkrankungen.
6) Wie steht es um die Impfungen und Impfdurchbrüche?
Die Impfung schützt trotz weniger Schutz vor Infektion weiterhin gut vor Krankheit und Tod. Bei der Zahl der Impfungen gibt es in Deutschland noch Luft nach oben. Noch ohne Impfung sind rund 54 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen, 28 Prozent der 18- bis 59-Jährigen und 13 Prozent der über 60-Jährigen. Während bei den Kindern und Jugendlichen die Impfquote kontinuierlich ansteigt, schwächt sie sich bei den Erwachsenen seit Wochen ab.
Seit Beginn der Impfkampagne wurden rund 145.000 Impfdurchbrüche registriert, wie aus dem Wochenbericht des Robert Koch-Instituts (RKI) hervorgeht. Das umfasst Menschen, die sich trotz Impfung infizieren und auch erkranken. In den letzten vier Wochen waren bei den über 60-Jährigen 60 Prozent aller registrierten symptomatischen Covid-19-Fälle wahrscheinliche Impfdurchbrüche, bei den 18- bis 59-Jährigen 40 Prozent und bei den Zwölf- bis 17-Jährigen rund 4 Prozent.
Die Daten zeigen zudem, dass betroffene geimpfte Erwachsene unter 60 Jahren im Schnitt zwar für Covid-19 typische Symptome verspüren können, aber deutlich seltener ins Krankenhaus und auf Intensivstation müssen. Von den Impfdurchbrüchen bei den über 60-Jährigen mussten hingegen 45 Prozent ins Krankenhaus, 35 Prozent auf Intensivstation. Auch unter den bisher 1221 Menschen mit Impfdurchbrüchen, die verstorben sind, waren 72 Prozent über 80 Jahre alt. Unter anderem deshalb empfiehlt die Stiko insbesondere für Ältere eine Auffrischimpfung, die den Schutz vor Virus und Erkrankung noch einmal stark erhöhen kann.
„Das spiegelt das generell höhere Sterberisiko – unabhängig von der Wirksamkeit der Impfstoffe – für diese Altersgruppe wider“, erklärt das RKI den Zusammenhang. Und ergänzt: Der Großteil aller an Covid-19-Erkrankten seien weiterhin Menschen, die nicht geimpft sind. Die geschätzte Impfeffektivität, die eine Behandlung auf der Intensivstation verhindert, beträgt mit Blick auf die Daten des letzten Monats weiterhin rund 94 Prozent bei den 18- bis 59-Jährigen, 90 Prozent bei den über 60-Jährigen. Auch der Schutz vor Hospitalisierung und Tod bleibe hoch.
Mit Material von dpa