Alexander Kekulé: „Ich rechne mit einer unsichtbaren Welle der Geimpften“

Das Pandemiegeschehen einzuordnen und Maßnahmen abzuwägen, das werde immer komplexer, sagt der Virologe Alexander Kekulé.

Das Pandemiegeschehen einzuordnen und Maßnahmen abzuwägen, das werde immer komplexer, sagt der Virologe Alexander Kekulé.

Alexander Kekulé ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Universität Halle und ehemaliger Berater der Bundesregierung für biologischen Bevölkerungsschutz. Er forscht nicht selbst zum Coronavirus, ordnet aber seit März 2020 im MDR-Podcast „Corona-Kompass“ die Entwicklungen der Pandemie ein.

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Herr Prof. Kekulé, was bewegt Sie als Wissenschaftler im Moment am meisten, wenn es um die vierte Corona-Welle geht?

Wir haben nur unbefriedigende Prognosen für den Herbst. Die Fachleute können kaum vorhersagen, wie sich die vierte Welle entwickeln wird. Gingen im vergangenen Jahr die Inzidenzen hoch, war weitgehend klar, wie viele Menschen erkranken und sterben. Jetzt ist die Analyse komplizierter. Es ist wirklich schwierig, zu sagen, wie sich die Impfungen auf die Bettenbelegung in den Kliniken und die Sterblichkeit auswirken werden.

Gesundheitsminister Spahn erwartet Ende der Pandemie im Frühjahr 2022
HANDOUT - 20.09.2021, Bayern, Unterf��hring: Jens Spahn (CDU), Bundesminister f��r Gesundheit, spricht am Montagabend in der ProSieben-Sendung ��Zervakis & Opdenh��vel. Live��. Foto: Benedikt M��ller/ProSieben/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung im Zusammenhang mit der Berichterstattung ��ber die Sendung. Das Foto darf nicht ver��ndert und nur im vollen Ausschnitt verwendet werden. Keine Archivierung. Nur mit vollst��ndiger Nennung des vorstehenden Credits +++ dpa-Bildfunk +++

Herdenimmunität und das Ende der Corona-Pandemie im Frühjahr 2022? Damit rechnet jedenfalls Jens Spahn.

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Woran liegt es, dass Modellierungen für die nahe Zukunft weniger Aussagekraft haben?

Wir wissen nicht, wie viele Menschen sich in Deutschland noch für eine Impfung entscheiden werden. Bei der Delta-Variante ist zudem unklar, wie viele Menschen geimpft sein müssen, um einen Teil der Maßnahmen aufzuheben. Australische Wissenschaftler haben gerade berechnet, dass eine Impfquote von 80 Prozent der Erwachsenen für das Beenden aller Maßnahmen ausreichen könnte. Dänemark hat bei 85 Prozent geöffnet. Eine wichtige Unbekannte ist hier, wie stark die Impfdurchbrüche ins Gewicht fallen. Das Robert Koch-Institut müsste diesbezüglich eigentlich seine Einschätzung überarbeiten.

Wie meinen Sie das?

Geimpfte sind zwar auch bei der Delta-Variante vor schwerem Covid und Tod weitgehend geschützt. Sie können das Virus jedoch an andere weitergeben. Es ist noch unklar, wie häufig das vorkommt. Nach derzeitiger Datenlage scheint der Schutz vor Infektionen durch eine vollständige Impfung bei 50 bis 70 Prozent zu liegen. Die Aussage des RKI, die Geimpften spielten keine Rolle mehr beim Epidemiegeschehen, ist jedenfalls falsch.

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Geimpfte könnten im Herbst also das Infektionsgeschehen beschleunigen?

Geimpfte verhalten sich in der Regel risikobereiter, sie haben mehr Kontakte, gehen häufiger auf Konzerte und Partys. Sie werden nicht getestet und kommen auch nicht in Quarantäne. Stecken sie sich an, haben sie oft keine oder nur sehr milde Symptome, erkennen ihre Infektion also nicht oder zu spät. Deshalb rechne ich mit einer unsichtbaren Welle der Geimpften. Es ist zu befürchten, dass von dort aus Infektionen auf die derzeit 3,4 Millionen Ungeimpften ab 60 überschwappen. Um in den sicher grünen Bereich zu kommen, bräuchten wir hier eine Impfquote von 90 Prozent. Die Impflücken bei Menschen mit hohem Risiko für schwere Verläufe und älteren Erwachsenen sind aktuell das größte Problem.

Das heißt aber auch, dass es für die Politik immer schwieriger wird, eine gut begründete Strategie für angemessene Maßnahmen zu finden?

Genau. In der derzeitigen Phase der Pandemie müssen die sekundären Kollateralschäden durch die Gegenmaßnahmen besonders gewissenhaft gegen deren Nutzen abgewogen werden. Die Politik muss sich in dieser komplexen Lage drei Fragen stellen: Welche Inzidenzwerte können wir mit der derzeitigen Impfquote riskieren? Welche Einschränkungen müssen wir den Menschen noch zumuten? Und letztlich auch: Wie viele Tote nimmt unsere Gesellschaft in Kauf? Das ist ein Dilemma, ein ethischer Konflikt. Ich meine, darüber müssten wir offen diskutieren. Aber mein Eindruck ist, dass dieses für die Menschen so wichtige Thema im Wahlkampf totgeschwiegen wurde.

Haben Sie ein konkretes Beispiel, an dem sich das Dilemma zeigt?

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Beim Umgang mit Schulkindern zeigt sich am deutlichsten, wie schwer es inzwischen ist, Kollateralschäden durch die Corona-Maßnahmen gegen den gesundheitlichen Nutzen abzuwägen. In Nordrhein-Westfalen wurde beispielsweise de facto die Quarantäne für Schülerinnen und Schüler abgeschafft. Damit riskiert man ein massives Ansteigen der Infektionszahlen, eine dramatische Herbstwelle. Das macht mir als Arzt und Epidemiologe natürlich Sorgen. Andererseits ist kaum genau zu beziffern, wie gefährlich eine solche Welle unter Kindern und jungen Erwachsenen für die Gesamtbevölkerung und insbesondere die ungeimpften Älteren wäre.

Ich kann deshalb nicht mit Sicherheit sagen, wie hart wir bei den Lockerungen am Wind segeln dürfen. Wegen dieser Unsicherheit plädiere ich dafür, besser auf der vorsichtigen Seite zu bleiben. Nachträglich lockern geht immer, aber eine einmal losgetretene Infektionslawine kann man nicht mehr einfangen.

Auch im privaten Bereich sollten Geimpfte abwägen, welches Risiko sie in Kauf nehmen wollen.

Welche Corona-Maßnahmen sind denn aus Ihrer Sicht noch angemessen?

Wenn wir im Herbst komplett aufmachen, könnte das eine unkontrollierbare Infektionswelle auslösen. Um das nicht zu riskieren, halte ich im öffentlichen Bereich 3G statt 2G für verantwortbar, in Kombination mit der Kontaktnachverfolgung. Überall, wo das nicht gewährleistet werden kann, muss man die kommende Erkältungssaison über weiter Maske tragen und Abstand halten.

Auch im privaten Bereich sollten Geimpfte abwägen, welches Risiko sie in Kauf nehmen wollen. Also: Gibt es in ihrem direkten Umfeld Menschen, die besonders geschützt werden müssen? Treffen sich zum Beispiel junge Geimpfte ohne Risikofaktoren untereinander, kann eher auf Abstand und Maske verzichtet werden. Anders sieht es aus beim Besuch der 85-jährigen Oma, wo der Immunschutz womöglich trotz Impfung nicht ausreicht.

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Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir im Frühjahr 2022 aus dem Gröbsten raus sein werden, es geht jetzt um das Durchstehen der letzten relevanten Pandemiewelle.

Wenn sich trotzdem eine unkontrollierbare Infektionswelle entwickeln sollte, was wäre im schlimmsten Fall zu befürchten?

Das Worst-Case-Szenario ist ein völlig entfesselter Ausbruch bei ungeimpften Kindern und Jugendlichen und eine gleichzeitig starke unsichtbare Welle unter den Geimpften. Das könnte viele ungeimpfte Menschen mit hohem Risiko treffen und im schlimmsten Fall zu regionalen Überlastungen der Kliniken und vielen vermeidbaren Todesfällen führen. Aber wir sind durch die Impfungen natürlich in einer viel besseren Position als im letzten Winter. Es wird nicht ansatzweise so viele Corona-Tote geben wie damals und es droht auch keine flächendeckende Strangulierung des Gesundheitssystems.

Wann ist die Pandemie dann wahrscheinlich unter Kontrolle?

Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir im Frühjahr 2022 aus dem Gröbsten raus sein werden, es geht jetzt um das Durchstehen der letzten relevanten Pandemiewelle. Ende Mai ist erfahrungsgemäß die Erkältungssaison vorbei, weil die warme Jahreszeit beginnt. Ich halte es auch für unwahrscheinlich, dass es vollkommen neue, gefährlichere Virusvarianten geben wird. Wir beobachten, dass das Coronavirus überall auf der Welt die gleichen zwei Tricks anwendet, um sich an den Menschen anzupassen: Es wird ansteckender und weicht der Immunabwehr von Geimpften und Genesenen aus. Damit entwickelt es sich langsam zu einem Erkältungsvirus, wie wir das auch von anderen Coronaviren kennen.

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Wie sieht der Alltag aus, wenn diese Phase erreicht ist?

Die Pandemie wird dann eine Endemie, das heißt der Erreger gehört zum normalen Leben und wir haben neben der Grippe und vielen anderen einfach eine Infektionskrankheit mehr auf der Liste. Es wird dann wahrscheinlich alle Jahre wieder Erkrankungswellen in der kalten Jahreszeit und auch Tote geben, vergleichbar mit der Grippe. Wenn Corona seinen Schrecken verloren hat, werden wir vielleicht trotzdem in Verkehrsmitteln und Geschäften weiter Maske tragen, so wie es in einigen asiatischen Großstädten ja schon länger üblich ist. Wir werden wahrscheinlich auch noch lange die Impfungen brauchen, vielleicht wird es in Zukunft sogar reguläre Covid-Impfungen im Kindesalter geben. Aber die Pandemie als nationale Krisenlage ist dann vorbei. Corona wird nicht mehr sein als ein normales Lebensrisiko unter vielen.

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