Chemsex: Warum manche schwule Männer ihre Sexualität nur unter Drogen ausleben können
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Harte Drogen sind für einige schwule Männer ein fester Bestandteil ihres Sexlebens.
© Quelle: Denisfilm/Istockphoto
Crystal Meth, Mephedron, oder auch GHB und GBL. Für manche homosexuelle Männer sind diese Drogen ein fester Bestandteil ihres Sexlebens. Sie verabreden sich über Dating-Apps wie Grindr und treffen sich mit anderen Männern – und vor oder beim Sex nehmen sie diese Substanzen ein. Das Phänomen trägt den Namen Chemsex und kann für manche Betroffenen zu einem großen Problem werden.
Doch warum haben manche schwule Männer überhaupt Sex auf Drogen? „Eine einfache Frage: Weil es sich großartig anfühlt”, sagt David Stuart. Der 54-jährige britische Aktivist prägte den Begriff Chemsex vor gut 20 Jahren – nicht zuletzt, weil er selbst Erfahrungen mit Sex unter Drogeneinfluss gemacht hat. „Mit den Drogen können schwule Männer ihre sexuellen Fantasien ausleben, sich sexy fühlen und Sex genießen. Dinge, die vorher nicht möglich waren“, sagt Stuart.
Manche begegnen diesen Gefühlen und Stressoren daher mit Substanzkonsum, um eine Enthemmung zu erleben”
Marcus Gertzen
Homophobie und Diskriminierung: Warum schwule Männer zu Chems greifen
Das Phänomen ist auch deshalb schon so lange weltweit verbreitet, weile viele schwule Männer Diskriminierung und Homophobie erlebt haben und auch noch erleben. Das war unter anderem und vor allem noch in der Aids-Epidemie in den 1980er-Jahren der Fall, erinnert sich Stuart: „Ich hatte mit meiner Identität als homosexueller Mann und auch schwulem Sex zu kämpfen. Ich hatte kaum Vergnügen daran, weil so viele es als ekelhaft dargestellt haben: Die Religion, die Medien und selbst die Ärzte.”
„Homosexualität wird oft noch als etwas Negatives oder gar Falsches dargestellt – und schwule Männer glauben mit der Zeit daher ganz häufig, dass an solchen Aussagen etwas dran ist. Manche begegnen diesen Gefühlen und Stressoren daher mit Substanzkonsum, um eine Enthemmung beim Sex zu erleben”, sagt Marcus Gertzen, Funktionsoberarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Universität Augsburg. In der Fachambulanz für Sexualität und Substanzkonsum berät Gertzen Betroffene zum Thema Chemsex.
Unter solchen Bedingungen mit anderen Männern Sex zu haben und Freude daran zu empfinden – das ist für manche schwule Männer nur schwer möglich. Drogen wie Crystal Meth oder das auch als Liquid Ecstasy bekannte GHB – sogenannte Chems – sind ein Weg, um die homophoben und diskriminierenden Aussagen in der Gesellschaft auszublenden. Für manche ist es sogar der einzige Weg, Sex und Intimität genießen zu können.
Chemsex: Begriff wird oft in falschen Zusammenhängen verwendet
Inzwischen wird Chemsex mitunter als Dachbegriff für jede Art von sexualisiertem Substanzgebrauch verwendet. In solchen Definitionen fallen etwa auch heterosexuelle Männer, die zum Masturbieren Drogen nehmen. Oder prostituierte Frauen, die Substanzen einnehmen, um den Sex mit Freiern besser zu ertragen. Dabei ist Chemsex ein Begriff, der im Sinne seiner ursprünglichen Definition einzig und allein auf das von Stuart beschriebene Phänomen in der Schwulen-Community abzielt.
Es sei eine Art kulturelle Aneignung, den Begriff für andere Phänomene zu verwenden, sagt Stuart. Er finde das problematisch. “Es gibt eine Menge an psychosexuellen Problemen, also ergibt es für mich als Aktivist Sinn, dass Menschen sich an diesem coolen Begriff festhalten. Aber auch beispielsweise heterosexuelle oder transsexuelle Menschen, die ohne Drogen keine Freude an Sex haben, brauchen jeweils eigene an ihre Kultur angepasste Hilfe”, betont der Aktivist.
Auch Gertzen unterscheidet zwischen Chemsex und sexualisiertem Substanzgebrauch: An seine Beratungsstelle wenden sich zwar auch heterosexuelle Männer, die etwa Substanzen vor dem Sex einnehmen. Allerdings gilt es, solche Fälle und das weit verbreitete Chemsex-Phänomen getrennt anzugehen. Er stimmt jedoch nicht mit dem engen Verständnis von David Stuart hinsichtlich der verwendeten Substanzen beim Chemsex überein. Denn auch Ketamin, MDMA, Kokain werden im Zusammenhang mit Chemsex zunehmend genommen. Selbst Cannabis kommt immer häufiger vor – wobei es laut Gertzen hierbei noch unklar ist, ob der Gebrauch sexualisiert ist oder ob unabhängig vom Sex einfach mehr konsumiert wird.
Psychosen, sexuell übertragbare Krankheiten, Überdosis: Die Folgen von Chemsex
Der Höhenflug und die Enthemmung beim Chemsex bleiben oftmals aber nicht ohne Folgen. Die Drogen können beispielsweise Depressionen, Angsterkrankungen bis hin zu Psychosen verursachen. David Stuart redet von Fällen sogenannter Chemsex-Psychosen, die in der Schwulen-Community immer häufiger werden. Der Drogenkonsum kann dabei auch physische Folgen haben. „Aufgrund der Enthemmung durch die Substanzen verzichten Betroffene teilweise auf präventive Schutzmaßnahmen – dadurch steigt das Risiko, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten anzustecken”, sagt Experte Gertzen. Mitunter könne der Drogenkonsum auch zu Grenzüberschreitungen beim Sex führen.
Gelegentlich kommt es auch vor, dass Chemsex-User eine fatale Überdosis nehmen. „Eine Überdosis kann jemanden in ein Koma versetzen – wenn man Glück hat, wacht man wieder auf. Doch leider sterben monatlich im Schnitt zwei schwule Männer an einer Überdosis GHB in London, die im Zusammenhang mit Chemsex genommen wurde”, bedauert Stuart. Er geht davon aus, dass es in anderen Städten ähnlich aussieht.
Wenn Sex ohne Drogen keinen Spaß mehr macht
Das Glücksgefühl, das Chemsex verspricht, hat vor allem aber auch langfristige Folgen für den „Sober Sex”, also Sex ohne Drogenkonsum. „Die Sexualität und der Substanzgebrauch verbindet sich bei Betroffenen ganz extrem. So wird der ‚Sober-Sex’ oft als unerregend empfunden”, betont Gertzen. Sex macht somit nur noch mit Chems Spaß. „Betroffene merken oft erst später, dass sie nicht mehr ohne Drogen Sex haben können. Oft ist es aber auch so, dass sie auch vorher schon keinen Gefallen an Sex finden konnten”, sagt Stuart.
Nicht alle Chemsex-User entwickeln ein Drogenproblem, doch eine Sucht schleicht sich bei manchen unbemerkt ein. „Was mit gelegentlichem Chemsex in der Freizeit beginnt, kann in eine schwerwiegende Drogenabhängigkeit münden. Und dann fängt die langsame Verschlechterung des Wohlbefindens an, die bis zu einer Depression führen kann”, sagt Stuart. Manche erkennen selbst, dass sie ein Problem haben. Andere Betroffene lassen sich laut Gertzen oft auch aus Fremdmotivation behandeln, also wenn sie etwa Probleme am Arbeitsplatz oder in Freundschaften und Beziehungen haben. Fehltage, vernachlässigte Freundschaften und Partnerschaften sind häufige Folgen des Drogenkonsums. „Manche User leben von einer Chemsex-Nacht zur nächsten – im Glauben, dass sie eine gute Zeit haben. Aber in Wahrheit verpassen sie die guten Zeiten im Leben”, betont Stuart.
Ich brauchte keine große Intervention, aber ich brauchte jemanden, der meine Kultur und den Kontext verstand, in dem ich die Drogen konsumierte
David Stuart
Nur wenige Anlaufstellen und Therapiemöglichkeiten für Chemsex-User
In der Zeit, als Stuart noch Chemsex hatte, waren Therapiemöglichkeiten Mangelware. Als er sich dazu entschlossen hatte, damit aufzuhören, war es nicht so einfach wie gedacht. „Ich wollte damit aufhören, aber dann tat ich es am Wochenende immer wieder. Ich brauchte keine große Intervention, aber ich brauchte jemanden, der meine Kultur und den Kontext verstand, in dem ich die Drogen konsumierte”, sagt er.
Doch Betroffene, die sich Hilfe suchen wollten, wurden in England meist nur zu einer Klinik für Drogensüchtige geschickt, in denen das Phänomen Chemsex weitgehend unbekannt war. Sie wussten nichts von den Gründen, warum Schwule die Drogen nehmen, geschweige denn von dem Problem, dass Sex ohne Drogen ihnen irgendwann keinen Spaß mehr macht. Der Mangel an Aufklärung und Therapieangeboten war Stuarts Anreiz, seine Laufbahn als Aktivist zu starten.
Die Hilfsangebote sind auch in Deutschland immer noch dabei, sich zu formieren, so Gertzen. Eine Chemsex-Ambulanz an der Universitätsklinik Tübingen berät zum Thema und hilft bei der Entwöhnung. Auch in weiteren Städten wie Berlin und Köln gibt es Suchtberatungsstellen, die sich auch mit Chemsex auseinandersetzen. In Hürth gibt es inzwischen auch an einer Klinik ein bundesweit einmaliges stationäres Behandlungskonzept für Chemsex. Zudem hat sich ein neuer Verein gegründet, die Bundesinitiative sexualisierter Substanzkonsum. Ziel ist es, dass das Thema Chemsex auf Bundesebene weiter vorangetrieben wird, wie Gertzen betont, der Vorstandsvorsitzende des Vereins ist.
Zahl der Chemsex-User steigt
Oft sind Therapieangebote jedoch noch nicht an Chemsex angepasst. So zielen die meisten Therapieverfahren aktuell noch darauf ab, Sex wieder als erregend zu empfinden. „Das sind etablierte Behandlungen, die nicht speziell bei Chemsex ansetzen – das ist problematisch”, betont Gertzen. Das sieht auch der in London lebende David Stuart so. „Das Problem ist, dass man sich zwar wegen sexuellen Problemen beraten lassen kann, es aber nur wenige Anlaufstellen mit Experten für Chemsex gibt”, sagt der 54-Jährige.
20 Jahre, nachdem Stuart den Begriff Chemsex geprägt hat, gibt es zwar immer noch wenige, aber immerhin mehr Hilfsangebote für Betroffene als früher. Doch in 20 Jahren ist auch die Zahl der Chemsex-User gestiegen, die Folgen davontragen, sind sich Gertzen und Stuart einig. Aufgrund des Datenmangels ist es jedoch schwierig, Zahlen zu nennen. Denn zum einen ist das Thema so schambehaftet, dass nur wenige Betroffene über ihre Probleme mit Chemsex sprechen, so Gertzen. Zum anderen werde selbst in der Fachliteratur der Begriff Chemsex nicht einheitlich verwendet.
Chemsex ein „weltweit verbreitetes Phänomen”
Stuart und Gertzen setzen sich beide dafür ein, Schwule über die Gefahren von Chemsex aufzuklären – und ihnen Wege aufzuzeigen, wie sie sich Hilfe suchen können. Sie wollen jedoch Chemsex nicht per se verteufeln. „Chemsex ist ein weltweit verbreitetes Phänomen. Nahezu jeder schwule Mann kennt jemanden, der davon betroffen ist. Ich wünsche mir, dass alle jemanden haben, mit dem sie darüber reden können, ohne verurteilt zu werden”, sagt Stuart. Manche Schwule haben ihren Konsum demnach auch im Griff und können sich Grenzen setzen. „Aber es gibt eben auch diejenigen, denen der Konsum entgleitet – für sie sind die Hilfsangebote gedacht”, sagt Gertzen.
Sie konsumieren Drogen im sexuellen Zusammenhang und möchten sich Hilfe suchen? Unter dem Link „aidshilfe.de/chemsex“ erhalten Sie Infos über Beratungseinrichtungen und Hilfe im Notfall.