Wenn Eltern sterben: Meine Stimme als Erinnerung
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Die Stimme als Erinnerung: Mit der Aufnahme eines Hörbuchs haben sterbende Eltern die Gelegenheit, ihren Kindern etwas ganz Persönliches zu hinterlassen. Denn: Die Stimme ist oft mit das erste, was aus der Erinnerung verschwindet.
© Quelle: Joachim Rieger
Hamburg. Wie entstand die Idee zu den Familienhörbüchern für sterbende Eltern?
Ich beschäftige mich als Medizinjournalistin schon lange mit der Begleitung von sterbenden Menschen. Dabei stellte sich auch für mich die Frage, wie würde ich als Mutter von drei Kindern reagieren, wenn ich selbst eine tödliche Diagnose bekommen würde. Was würde ich hinterlassen? Meine Idee: Ich nehme den Kassettenrekorder und erzähle den Kindern von meinem Leben. Weniger, weil ich so viel Spannendes erlebt habe, sondern viel mehr, um meine Stimme zu hinterlassen. Aus dieser ersten Idee entwickelte sich im Laufe der Zeit ein Angebot für junge Eltern, die sterbenskrank sind.
Wer nimmt ihr Angebot für ein Familienhörbuch wahr?
Derzeit werden die Familienhörbücher wissenschaftlich begleitet und zwar im Rahmen einer Studie mit der Palliativstation der Uniklinik Bonn. Die jungen Eltern, die dort behandelt werden, haben eine chronische Erkrankung im Endstadium oder eine „austherapierte“ Krebserkrankung und wissen, dass sie ihre Kinder nicht mehr aufwachsen sehen. Ihnen wird die Aufnahme eines Familienhörbuchs kostenlos angeboten, im Gegenzug nehmen sie an der Studie teil. Gleichzeitig bekomme ich unzählige Anfragen von unheilbar erkrankten Eltern mit kleinen Kindern und Angehörigen aus dem ganzen Bundesgebiet. Ich arbeite daran, dass in absehbarer Zukunft bundesweit Palliativpatienten ihren Kindern ein Familienhörbuch hinterlassen können.
Wie läuft die Aufnahme ab?
Das richtet sich ganz nach den Wünschen der Menschen. Manchmal besuche ich sie zuhause oder in der Klinik. Manche kommen auch für drei Tage zu mir. Ich habe aber auch schon mit einer jungen Mutter gearbeitet, die sich aus der palliativen Betäubung holen ließ, um noch anderthalb Stunden etwas für ihre kleine Tochter aufzunehmen. Die meisten Patienten empfinden die Arbeit an ihrem Familienhörbuch als wohltuenden Rückblick auf ihr Leben. Ich gehöre weder zum medizinischen Team noch zur Familie, ich frage nicht nach Stuhlgang oder Tumorwerten. Ich bin eher die Fremde im Zug, der gegenüber man auch unverblümt seine Trauer und Wut aussprechen kann. Mir kann man alles erzählen, ganz ohne die Sorgen, dass mich die eigenen Gedanken, das Gesagte zu stark belasten könnten. Wir sprechen ganz offen über das gelebte Leben, über die Jugend, über den ersten Kuss, über verrückte Erlebnisse, aber auch über das bevorstehende Sterben und die Sorge um die dann verwaisten Kinder. In dieser Zeit feiern wir nochmal das Leben und versuchen genau diese erfüllten Zeiten in Worte zu fassen, die den Angehörigen hinterlassen werden können.
Ich bin eher die Fremde im Zug, der gegenüber man auch unverblümt seine Trauer und Wut aussprechen kann.
Wovon erzählen die sterbenden Eltern ihren Kindern?
Oft gehen wir ganz chronologisch die Lebensgeschichte durch, von der eigenen Kindheit, über die erste Schritte als Erwachsener. Wir unterhalten uns länger über besondere Episode im Leben. Lange Reisen, das Studium, das erste Date mit dem Partner. Wenn die Menschen viel zu erzählen haben, entstehen schon mal 15 Stunden Familienhörbuch. Doch wenn nicht mehr genug Kraft oder Zeit für eine ausführliche Erzählung bleibt, dann konzentrieren wir uns aus das Wesentlichste: Wer bin ich? Was möchte ich dir noch erklären? Mit Botschaften– unter dem Motto: Wenn du erwachsen bist, dann möchte ich, dass du…" halten sich die meisten zurück. Immerhin können solche Aufträge schnell zu einer schweren Bürde werden und den Lebensgeschichten ihre Leichtigkeit nehmen.
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Vielen Angehörigen bleiben Bilder oder persönliche Gegenstände als Erinnerung. Was ist der Unterschied zu einer akustischen Erinnerung?
Die Stimme der Mutter ist das Erste, was ein Embryo hört. Gleichzeitig vergessen wir zuerst die Erinnerungen an die Stimme eines verstorbenen Angehörigen. Das Parfüm, der Geruch von Omas Apfelkuchen, all sowas bleibt in unserem Gedächtnis, nicht aber die Stimme. Deshalb löschen auch ganz viele Menschen den letzten Anruf eines Verstorbenen auf dem Anrufbeantworter nicht. Dazu kommt, dass die gesprochenen Emotionen und Erinnerungen eine viel stärkere Wirkung haben als geschriebene Worte. Denken Sie nur ein angesagtes „Ich liebe dich“. Auf einem Video würde man vielleicht sehen, wie schwach und von der Krankheit gezeichnet die Eltern schon waren. Dazu kommt die Länge, 15 Stunden als Hörbuch sind kein Problem, 15 Stunden Video wäre eine ungleich größere Belastung – für den Erzählenden und für die Kinder.
Hinzu kommt, dass die gesprochenen Emotionen und Erinnerungen eine viel stärkere Wirkung haben als geschriebene Worte.
Wann und wie hören die Angehörigen das Hörbuch?
Das ist sehr unterschiedlich. Manche Familien hören das Familienhörbuch schon zu Lebzeiten gemeinsam ein erstes Mal. Auch auf Beerdigungen werden manchmal schon Ausschnitte gespielt. Andere Familien legen das Hörbuch oder auch nur einzelne Kapitel zur Seite und holen es heraus, wenn die Kinder älter, vielleicht schon volljährig sind.
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Was macht die Aufnahme mit den sterbenskranken Menschen?
Die Rückbesinnung auf das eigene, erfüllte Leben hat etwas sehr Tröstendes. Ich hatte doch eine schöne Zeit, diese Erkenntnis ist vielen Palliativpatienten sehr wichtig. Außerdem gibt es eine neue Antwort auf die Frage, was bleibt eigentlich von mir. Die Patienten können sich sicher sein, dass ihre Stimme, ihre Geschichte ganz anders im Bewusstsein der Angehörigen bleibt. Diese Rückmeldung bekommen wir übrigens auch von den Angehörigen. Sie empfinden das Hörbuch als sehr besondere Form der Trauerbegleitung.
Die Rückbesinnung auf das eigene, erfüllte Leben hat etwas sehr Tröstendes.
Zur Person
Judith Grümmer ist Audiobiografin, Hörfunkjournalistin und Initiatorin des Projekts Familienhörbücher für schwerstkranke Mütter und Väter mit kleinen Kindern, ist dankbar, dass sie mit ihrem unterdessen verstorbenen Mann ihre drei Söhne ins Erwachsenenleben begleiten durfte. Nun hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Familienhörbücher als Zukunftsgeschenke für früh verwaiste Kinder als therapiebegleitendes Angebot flächendeckend zu etablieren.
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Judith Grümmer
© Quelle: Joachim Rieger