Schlauer werden ohne Schule: Wie Kinder weltweit in Corona-Zeiten lernen
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In vielen Ländern dieser Welt wird der Unterricht im Zuge der Corona-Pandemie digital gehalten.
© Quelle: Sebastian Gollnow/dpa
Sei es in Japan, Großbritannien oder Kolumbien: in vielen Ländern dieser Welt sind die Schulen im Zuge der Corona-Pandemie geschlossen. Mathe, Sprachunterricht und Co. findet weitestgehend digital statt, doch in jedem Land gibt es andere Wege, den Unterricht zu halten. Nicht überall sind die Bildungschancen gleich.
Australien: Lehrer im Wohnzimmer, Teddys im Vorgarten
Die Debatte, ob Australiens Schulen während der Pandemie geöffnet oder geschlossen sein sollen, bewegte die Nation lange. Premierminister Scott Morrison wiederholte im März stur, er wolle nicht, dass die Kinder ein Jahr Unterricht versäumen würden. Doch je weiter die Zahl der positiv auf Covid-19 Getesteten in den Zentren Melbourne und Sydney nach oben schnellte, umso mehr geriet die Regierung unter Druck, zumindest in den bevölkerungsreichen Orten zu reagieren.
Seit dem 24. März bleiben die Kinder in Sydney nun zu Hause; die Schulen sind aber weiter für diejenigen geöffnet, deren Eltern nicht im Homeoffice arbeiten können oder in essenziellen Jobs tätig sind. Der Rest erhält Unterricht übers Internet, doch hier sind die Unterschiede gewaltig und hängen vor allem vom Einkommen der Eltern ab. Viele der teuren Privatschulen streamen den Unterricht, sodass die Schüler weiterhin sämtliche Inhalte von ihrem vertrauten Lehrer vermittelt bekommen. Nur die Aktivitäten außerhalb des Klassenzimmers sind alle gestrichen: Es gibt keinen Schwimmunterricht mehr, niemand bastelt im Designworkshop mit dem 3-D-Drucker herum, und auch die Schulbands schweigen.
Doch die Kinder sind wie zu normalen Zeiten auch in einen strengen Schulalltag eingebunden: Vom Einloggen am Morgen und dem “Hallo” in der Tutorengruppe bis zur letzten Stunde am Nachmittag gegen 15 Uhr. Auch Tests werden geschrieben – hier müssen die Kinder meist ihre eigene Kamera einschalten und stehen unter Beobachtung des Lehrers – bis sie die Arbeiten per Mail abgeschickt haben. Damit die Motivation nicht nachlässt, halten viele Schulen die Kinder dazu an, in Schuluniform vor dem Computer zu sitzen.
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© Quelle: RND
Die staatlichen Schulen tun ebenfalls ihr Bestes, die Kinder zu motivieren. Viele arbeiten und korrespondieren mit den Kindern, über Google Classroom beispielsweise. Dort laden die Lehrer Wochenaktivitäten hoch, die dann entweder von den Eltern oder den Lehrern abgenommen werden. An Projekten arbeiten die Kinder gemeinsam, etwa über den Videodienst Zoom. Für den Motivationsschub zwischendrin senden manche Lehrer und Direktoren kleine Youtube-Filme, in denen sie sich selbst spielen und zeigen, was sie in der leeren Schule so machen. Finanziell schwächere Familien können meist Laptops in der Schule ausleihen, zumindest in den größeren Städten.
Unterstützung gibt es auch über die staatlichen Medien, die Bildungsprogramme, Spiele und Aktivitäten anbieten. Die Nachrichten fasst beispielsweise ein Kinderprogramm des staatlichen Senders ABC – “Behind the News” – täglich für die Kinder zusammen. Dort versucht man, die Inhalte für die Jüngsten aufzubereiten: Da wird dann erklärt, warum alle Hände waschen und Abstand halten müssen, aber auch, dass keiner in Angst versinken muss.
Viele Familien machen sich selbst ebenfalls eine Menge Arbeit: Vor allem eine Idee aus Neuseeland macht inzwischen in Australien die Runde. So verstecken viele Teddybären in ihren Vorgärten, in Autos und hinter Fenstern, damit die kleineren Kinder auf “Bärenjagd” gehen können – in Anspielung auf das beliebte Kinderbuch “Wir gehen auf Bärenjagd” von Michael Rosen –, wenn sie während der Quarantänezeit an die frische Luft dürfen.
Am schwierigsten ist die Situation wie überall für die Jugendlichen, die 2020 ihren Schulabschluss machen sollen. Die Bildungsminister der einzelnen Bundesstaaten haben sich bereits darauf geeinigt, dass die Zwölftklässler die “verpassten” Monate nicht 2021 nachholen sollen. Wie die Abschlussprüfungen Ende des Jahres aber aussehen sollen, müssen die Staaten in den kommenden Wochen jeder für sich selbst entscheiden. Als eine der ersten Universitäten gab die australische Nationaluniversität in Canberra bereits bekannt, dass sie die Studienplätze fürs kommende Jahr basierend auf den Noten der Schüler in der elften Klasse vergeben werde. Auch so kann Solidarität aussehen.
Japan: Wenn der Blick der Lehrer milder wird
Schon der Anfang stiftete Verwirrung: Was sollen wir nun tun, fragten sich Lehrer, Eltern und Kinder. Die Schulen sollten möglichst alle schließen, hatte Premierminister Shinzo Abe am 27. Februar gebeten. Es war ein Donnerstag, bis zum folgenden Montag blieb kaum noch Zeit, um alle plötzlichen Ungewissheiten abzuklären. Soll Unterricht nun per Video stattfinden? Soll es Hausaufgaben geben?
Mittlerweile hat sich Japan zumindest ein wenig an den neuen Alltag gewöhnt. Seit fast zwei Monaten gehen die meisten Kinder nicht mehr zur Schule. Zwar gehörten zwei Wochen davon ohnehin zur geplanten Ferienzeit des Schuljahres, sodass sich die Ferien mit der verfrühten Schließung zunächst nur etwas verlängerten. Auch die Prüfungen waren Ende Februar schon abgehalten. Aber seit Anfang April läuft das neue Schuljahr – wenn auch überwiegend ohne Unterricht im Klassenzimmer. Entsprechend umfangreichere Hausaufgaben erteilen Lehrer nun per E-Mail. Eingereicht werden sollen sie auf die gleiche Weise.
Vielerorts ist zu hören, dass die sonst strengen Augen der Lehrer dieser Tage etwas milder blicken, wenn eine Aufgabe mal nicht tadellos oder gar nicht eingereicht wurde. Normalerweise werden die Eltern dann unverzüglich vom Lehrer informiert. Nun aber scheint Nachsicht zu herrschen. Schließlich ist es auch für die Heranwachsenden eine schwierige Zeit. Ihnen fehlt der Kontakt zu den Lehrern, die in Japan nicht nur eine didaktische, sondern auch eine erzieherisch wichtige Funktion übernehmen. Zudem will man Rücksicht auf die Eltern nehmen.
Neben den Kindern sind denn auch die Erwachsenen von geschlossenen Schulen stark betroffen. Besonders gilt dies in Japan für Alleinerziehende, deren Anteil aller Haushalte über die letzten Jahre kontinuierlich auf nunmehr rund 15 Prozent angewachsen ist. In kaum einem Industriestaat ist das Armutsrisiko von Singleeltern, die meist Frauen sind, so hoch wie in Japan. Nun, da sie auch noch vermehrt im Homeoffice arbeiten müssen und unter Einkommenseinbußen leiden, müssen sie noch mehr jonglieren als andere Eltern. Dreimal am Tag müssen auch noch Mahlzeiten zubereitet werden. Wer sein Kind daheim nicht bekocht, gilt schnell als Rabenmutter.
Viele Eltern berichten, dass gerade jüngere Kinder abends nicht mehr einschlafen, weil sie mit ihren Freunden Onlinespiele zocken. Oder dass sich die Älteren tagsüber rausschleichen, um sich mit Altersgenossen im Park zu treffen. Um das Leben nicht völlig unerträglich zu machen, sperren daher viele Schulen ihre Schulhöfe auf. Dort dürfen sich die Schüler aufhalten, sofern sie Abstandsregeln einhalten. Schulangestellte sind zur Aufsicht vor Ort. Aber die können, wie in einer gewöhnlichen Schulpause auch, kaum überall gleichzeitig eingreifen.
So halten nicht nur viele Eltern die derzeitige Situation für wenig optimal. Auch Offizielle des Bildungsministeriums haben sich schon echauffiert. Denn während Shinzo Abe seinen Beschluss von Ende Februar zur zügigen Schulschließung wie ein hartes Durchgreifen verkaufte, mangelt es bis heute an detaillierten Regeln. Abschlussfeiern, die normalerweise im März stattfinden, wurden teils abgesagt, teils durchgeführt. Anfang April fuhren in weniger dicht besiedelten Regionen einige Schulen ihren Unterricht schon wieder hoch – trotz steigender Infektionszahlen überall.
In Tokio, das besonders viele Corona-Kranke zählt, werden die Schulschließungen wohl zumindest bis Monatsende anhalten. Mehrere Universitäten üben sich im Unterricht per Videoübertragung – sowohl live als auch per Aufzeichnung. An Schulen hält man diesen Schritt vielerorts für deutlich schwieriger. Vor allem die Lehrer selbst schrecken davor zurück. Denn um die Aufmerksamkeit der Kinder sicherzustellen, müsste man wohl noch stärker auf die Eltern zurückgreifen als ohnehin schon.
Großbritannien: Feuerübungen, Frust und verpasste Chancen
Der Lärm Hunderter Kinder dringt normalerweise täglich zur Pausenzeit aus dem Hof der Grundschule, verbreitet sich im Wohnviertel von Brixton im Londoner Süden. Er gehört zum Alltagsrauschen der Gegend. Nun sind die schmiedeeisernen Tore der staatlichen Schule geschlossen – wie überall im Vereinigten Königreich. Keine uniformierten Kinder – die Jungen mit Krawatte, die Mädchen meist in Röcken – füllen mehr die Busse und U-Bahnen.
Großbritanniens Schüler, Kindergarten- und Kita-Kinder befinden sich seit dem Nachmittag des 20. März in der Zwangspause. Wie lange diese anhalten wird, ist ungewiss. Ausgenommen ist lediglich der Nachwuchs von Eltern, die in wichtigen Bereichen der Gesellschaft tätig sind, etwa für den Gesundheitsdienst arbeiten oder bei der Polizei. Diese Kinder werden weiterhin in Kleingruppen in Schulen und Tageseinrichtungen betreut.
Doch wirklich frei haben auch die übrigen Kinder und Jugendliche auf der Insel nicht. Etliche Lehrer halten ihren Unterricht online via Internetplattformen wie Google Classroom ab, geben Aufgaben und kommunizieren per Mail oder in Videokonferenzen.
Motivierte Eltern versuchen außerdem, durch Homeschooling die verlorenen Stunden auszugleichen. Das sorgt zunehmend für Frustration, wie Erfahrungsberichte in den sozialen Medien offenbaren. “Falls jemand meine Kinder ausgesperrt vor unserem Haus sieht, kümmert euch nicht darum, es ist eine Feuerübung”, scherzte eine genervte Mutter auf Twitter. Und weil kein Ende in Sicht ist, haben die Regierung in London sowie die Regionalregierungen in Schottland und Wales die Abschlussprüfungen gestrichen. Die mit dem Abitur vergleichbaren “A-Levels” werden stattdessen auf Basis bisheriger schulischer Leistungen vergeben.
Bildung ist im Königreich nicht zentral organisiert. Vielmehr haben die vier Provinzen England, Schottland, Wales und Nordirland jeweils eigenständige Schulsysteme, die sich zwar ähneln, aber deren Inhalte und Strukturen durch die lokalen Behörden bestimmt werden. Die A-Level-Prüfungen hätten Mitte Mai beginnen sollen. An ihre Stelle, so das Ziel der Behörden, würden “faire, objektive und sorgfältig überlegte” Einschätzungen der Schulen treten. Diese Bewertungen sollen widerspiegeln, “welche Noten die Schüler am wahrscheinlichsten erhalten hätten, wenn sie die Prüfungen abgelegt hätten”. Dasselbe gilt für das GCSE – ein Examen, das in etwa der mittleren Reife entspricht.
Für viele ambitionierte Jugendliche kommt die Absage der A-Levels einer Katastrophe gleich. Denn exzellente Noten gelten für den Großteil von ihnen als einzige Chance, im klassengeprägten System einen Studienplatz inklusive Stipendium in einer Eliteschmiede zu ergattern. Das Bildungssystem gilt als eine der Hauptursachen für die massive soziale Ungleichheit in der britischen Gesellschaft. Die Noten allein entscheiden über die Zukunft der jungen Menschen, wenn die Eltern nicht genügend Vermögen haben, um ihren Nachwuchs bereits in jungen Jahren auf Privatschulen wie Eton oder Harrow schicken zu können. Schulgebühren von rund 30.000 Pfund im Jahr sollen den privilegierten Absolventen ihr Studium an den Universitäten von Oxford oder Cambridge sichern. Da fallen ein paar hundert Pfund für privaten Onlineunterricht während des Lockdowns auch nicht mehr ins Gewicht. Nur 7 Prozent der britischen Kinder besuchen solche privaten Lehranstalten – die am Ende aber doch den Großteil der Elite in Politik, Wirtschaft und Kultur stellen.
Die Lehrer sorgen sich jetzt mehr um die rund drei Millionen Kinder, denen ein Schulessen zusteht, weil das Einkommen ihrer Eltern so gering ist. Häufig ist der kostenfreie “school lunch” in den Ganztagsschulen die einzige richtige Mahlzeit des Tages. Damit diese Kinder und Jugendlichen während der Corona-Krise wenigstens zu essen bekommen, verteilen viele Gemeinden als Ersatz Gutscheine, die die Familien in Supermärkten einlösen können.
USA: Die Schwächsten steuern auf eine Bildungskatastrophe zu
Stephanie Keith fühlt sich hilflos in diesen Tagen des Coronavirus. Als arbeitende, alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, die jetzt den ganzen Tag zu Hause sitzen, fühlt die New Yorker Fotoreporterin sich restlos überfordert. “Mein Sohn”, berichtet sie, “lernt nicht gut, wenn er nur Arbeitsblätter hat. Aber ich kann nicht für ihn da sein und den ganzen Tag mit ihm lernen.”
New Yorks Bürgermeister Bill de Blasio hat beschlossen, die öffentlichen Schulen der Stadt für den Rest des Schuljahres zu schließen. Normaler Unterricht wird frühestens wieder im September beginnen. Nun haben Eltern wie Stephanie Keith Angst, dass ihre Kinder hoffnungslos ins Hintertreffen geraten.
Die New Yorkerin ist nicht alleine mit ihren Ängsten. 20 Staaten der USA haben das Schuljahr schon für beendet erklärt. Je mehr sich das Virus von der Ostküste aus über das Land verbreitet, desto mehr Staaten werden sich wohl anschließen.
US-Bildungsministerin Betsy DeVos hat in dieser Lage zwar die Parole ausgegeben, das Lernniveau nicht nur zu halten, “sondern in vielen Fällen mithilfe der neuen Technologien sogar anzuheben”. Doch gerade in öffentlichen Schulen wie jener, die Keiths Kinder in New York besuchen, ist das mehr Wunschvorstellung als realistisches Ziel.
Der Unterschied im Lernniveau zwischen den oft sehr teuren Privatschulen und den öffentlichen Schulen der USA ist schon in normalen Zeiten eklatant. Nun droht die Corona-Krise dieses soziale Ungleichgewicht noch deutlich zu verschärfen.
So konnten viele Privatschulen rasch und unbürokratisch auf Onlinebetrieb umstellen. Die Schüler sind durchweg mit Endgeräten ausgestattet, Eltern und Lehrer konnten unkompliziert zusammenarbeiten, um Lehrpläne umzusetzen. Die Lehrer hatten die Kapazitäten, sich direkt mit den Problemen einzelner Schüler zu beschäftigen und helfend einzugreifen.
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In vielen Schulbezirken kämpfen die öffentlichen Schulen hingegen darum, überhaupt den Betrieb aufrechtzuerhalten. In Los Angeles etwa, wo 80 Prozent der Schüler an den öffentlichen Schulen aus Familien kommen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, sind 15.000 Kinder seit der Schulschließung verschwunden. 40.000 Kinder melden sich nur unregelmäßig bei ihren Lehrern.
Die Hindernisse für viele dieser Familien sind schier unüberwindbar. Viele Haushalte haben keinen Breitbandinternetanschluss, es mangelt an Computern – auch wenn die Schulbezirke von Los Angeles und New York, die größten Schulbezirke des Landes, noch kurz vor der Schulschließung Zehntausende von Chromebooks und iPads ausgegeben haben.
Doch da hören die Schwierigkeiten nicht auf. Die Familien unterprivilegierter Kinder sind häufiger als andere von der Krankheit betroffen. Viele Kinder haben es mit kranken Eltern und Geschwistern zu tun und müssen Aufgaben im Haushalt übernehmen. Viele Eltern sind zudem arbeitslos geworden und kämpfen ums Überleben. Fürs Lernen bleibt da oft keine Zeit.
In New York allein haben 114.000 Kinder noch gravierendere Hindernisse. Ihre Familien sind obdachlos, sie müssen in überfüllten Notunterkünften versuchen, ihre Schularbeiten zu machen. Nicht zuletzt dieser Kinder wegen hat de Blasio lange gezögert, die Schulen zu schließen. Die Schulen boten einen sicheren Ort – und wenigstens eine warme Mahlzeit am Tag.
Die Umstellung auf digitalen Unterricht ist deshalb nur dort ein Erfolg, wo ohnehin ausreichende Ressourcen für eine gute Ausbildung vorhanden sind. Für die Ausbildung und die Berufsaussichten der sozial schwachen Schüler könnte die Corona-Krise aber verheerende Auswirkungen haben. So sagt der Schulkoordinator des Distrikts Miami, Alberto Carvahlo: “Wir sehen uns einer historischen akademischen Regression unserer schwächsten Bevölkerung ausgesetzt.”
Frankreich: Kekse backen und pauken – Eltern suchen die Balance
“Liebe Eltern mit schulpflichtigen Kindern”, so beginnt ein Schreiben, das vor einiger Zeit bei deutschen Eltern die Runde machte. Es sollte angeblich aus dem französischen Bildungsministerium kommen – und war voller guter Ratschläge.
“Möglicherweise neigen Sie dazu, einen minutengenauen Zeitplan für Ihre Kinder zu erstellen”, heißt es darin. “Sie haben große Hoffnungen in stundenlanges Lernen, einschließlich Onlineaktivitäten, wissenschaftliche Experimente und Buchberichte.” Doch auch die Schüler seien verängstigt und brauchten mehr denn je das Gefühl, geliebt zu werden. “Und das könnte bedeuten, dass Sie Ihren Zeitplan zerreißen und Ihre Kinder ein bisschen mehr lieben müssen. Kekse backen und Bilder malen. Spielen Sie Brettspiele und schauen Sie sich Filme an.” Wenn der Unterricht erst einmal wieder seinen Gang aufnehme, werde der Schulstoff schon nachgeholt. Die psychische Gesundheit der Kinder sei wichtiger als ihre akademische Fortbildung.
Das Bildungsministerium in Paris dementierte auf Nachfrage entschieden, Urheber dieser wohlwollenden Zeilen zu sein. Die Wortwahl in der Elternmail lässt vermuten, dass es sich um eine teils holprige Übersetzung aus dem Französischen handelt, doch wer dahintersteckt, ist unbekannt.
Auch in Frankreich hat die landesweite Schließung aller Schulen am 16. März viele Eltern in die Bredouille gebracht, die ihre Kinder zu Hause betreuen müssen und dabei idealerweise die Versuche des Homeschoolings begleiten sollen. Da der Unterricht bereits ab der ersten Klasse ganztägig ist, übernimmt die Schule schon im frühen Alter der Kinder eine wichtige Erziehungsfunktion. Wie ist diese während der Ausgangssperre zu ersetzen?
Wirklich vorbereitet waren die Bildungseinrichtungen nicht. Noch kurz bevor Präsident Emmanuel Macron die Schließung aller Schulen ankündigte, hatte Erziehungsminister Jean-Michel Blanquer beteuert, so weit werde es nicht kommen. Später sagte er, für eine Öffnung werde der 4. Mai anvisiert. Inzwischen gilt der 11. Mai, doch Blanquer erklärte, die Rückkehr in die Schulen gehe “progressiv” vonstatten. Die Verunsicherung der 12,6 Millionen französischen Schüler und 2,6 Millionen Lehrer ist groß: Wie lange hält die Ausnahmesituation wirklich noch an, in der der Schulstoff, der im ganzen Land inklusive der Überseegebiete allerorten exakt gleich ist, nicht mit dem geplanten Rhythmus durchgenommen werden kann, keine Prüfungen stattfinden, einige Schüler vom Radar der Lehrer verschwinden?
Viele von diesen klagten, dass die Informationssysteme, die die Akademien für den Austausch mit Schülern und Eltern, Hausaufgaben oder Videokonferenzen zur Verfügung stellten, in der Praxis nicht funktionierten. Sie waren technisch überlastet und teils viel zu komplex. Zudem haben längst nicht alle Schüler die Hardware oder eine gute Internetverbindung, um digitalem Unterricht folgen zu können – und nicht alle Eltern können helfen. So wächst die Sorge, dass die aktuelle Situation bestehende Ungleichheiten zwischen den Kindern noch verstärkt.
Internationalen Vergleichsstudien zufolge bestimmt in Frankreich die soziale Herkunft besonders stark über den schulischen Erfolg. “Es ist in normalen Zeiten schon schwer, unsere Schüler zum Arbeiten anzuhalten”, sagt Inès, Lehrerin einer Mittelschule im Pariser Vorort Courbevoie. “Jetzt kommt es besonders stark auf die Eltern an. Da manche nicht gut Französisch sprechen, ist oft kein Austausch möglich.“
Die Abiturprüfungen sowie die Abschlussprüfungen an den Berufsschulen fallen in diesem Jahr weitgehend aus. Die Abschlussnoten setzen sich aus den Ergebnissen der Prüfungen des ganzen Jahres zusammen. Doch auch diese sind ausgesetzt.
Selbst wenn im Mai die Schule wieder beginnt, ist das Jahr verloren. Anfang Juli schon stehen die Sommerferien an. Wieder eine Gelegenheit für die Eltern, mit ihren Kindern Kekse zu backen – oder, falls sie können, mit ihnen zu lernen.
Kolumbien: E-Learning ist nur etwas für die Reichen
Seit gut vier Wochen sind die Schulen und Universitäten in Kolumbien geschlossen. Allein in der Hauptstadt Bogotá sollen 791.000 Schülerinnen und Schüler nun von zu Hause aus, statt vor Ort lernen. Damit das klappt hat das Bildungsministerium den Lernstoff online aufbereitet und stellt ihn auf der Plattform “Zu Hause lernen” bereit. Doch das Konzept ist eine Sache, die Realität eine andere.
“Was die Lehrerin macht, ist ihren Unterricht per Whatsapp zu vermitteln. Ich zweifle daran, dass die Kinder etwas lernen, indem sie Buchstabensuppen oder Malspiele machen”, sagt Andrea Gonzalez aus dem Armenviertel Kennedy und Mutter einer siebenjährigen Tochter. Inmitten der Corona-Krise treten die Defizite der kolumbianischen Bildungspolitik zutage. Die öffentlichen Schulen sind meist schlecht ausgestattet, während die oft sehr teuren privaten Schulen und Universitäten mit dem besten Material arbeiten können, weil sie sich durch hohe Gebühren finanzieren.
Hinzu kommt, dass in den Armenvierteln die Internetverbindung ohnehin meist langsamer ist. Und seit alle Schüler auch vormittags im Netz hängen sowieso. Während die reichen Kinder im Norden Bogotás mit teuren Smartphones oder Tablets arbeiten können, müssen sich die armen Schüler zu Hause an veralteten Rechnern abkämpfen, die oft abstürzen und um die sich gleich mehrere Kinder streiten müssen. Das führt in der Regel zu einem strukturellen Nachteil in der Bildung für ärmere Bevölkerungsschichten.
Dabei ist Know-how für das E-Learning durchaus da. Das deutsch-kolumbianische Sprachinstitut ICCA sammelte bereits 2014 erste Erfahrungen – und das hatte unmittelbar mit der Flüchtlingskrise in Europa zu tun. “Wir haben damals eine tolle und prägende Erfahrung erlebt, als wir das Projekt ‘Klassenzimmer 2.0’ für Flüchtlinge in Deutschland durchführten”, berichtet Institutsleiterin Daniela Schweikart (28), die vor einigen Jahren aus Süddeutschland den Weg nach Kolumbien fand. Weil es wegen der hohen Nachfrage unter den Flüchtlingen in Deutschland vor Ort viel zu wenig Sprachkurse in deutscher Sprache gab, half das ICCA mit. Die Lehrer unterrichteten aus 11.000 Kilometer Entfernung die Sprachschüler via E-Learning in Deutschland. Und das funktionierte.
“Als die Ausgangssperre in Bogotá eingeführt wurde, haben wir den Unterricht für knapp 500 Studenten auf das schon vorher erprobte Onlineformat ‘Klasssenzimmer 2.0’ umgestellt”, sagt Schweikart. “Das heißt, wir unterrichten unsere Schüler live und online. Alles, was sie dazu brauchen, sind eine Internetverbindung, ein Headset und eine Kamera.” Fast alle kolumbianischen Sprachschüler kommen aus dem Universitätsviertel der Hauptstadt, doch das privatwirtschaftlich organisierte E-Learning bringt dem Institut inzwischen auch Schüler aus der weit entlegenen Amazonas-Region – wenn sie die Beiträge denn bezahlen können.
Institutsdirektor Alejandro Velasco ist davon überzeugt, dass E-Learning ausschlaggebend sein wird, um auch in Zukunft konkurrenzfähig zu bleiben. Schweikart meint, dass manche Schüler im Unterricht den persönlichen Kontakt zum Lehrer bevorzugen. “Einer der wichtigsten Vorteile ist aber wohl der Zugang zu Bildung: dass jeder Teilnehmer unabhängig seiner Örtlichkeit unseren Unterricht wahrnehmen kann.”
Bildungsgerechtigkeit ist in Kolumbien seit langem ein wichtiges Thema. Während der Proteste im vergangenen Herbst gingen vor allem Studentinnen und Studenten auf die Straße. Ihre Forderung: Mehr Investitionen in die Bildung, flächendeckender kostenfreier Zugang zu qualitativ guter Bildung auch in den abgehängten ländlichen Regionen oder den Armenvierteln. Wenn die Ausgangssperre erst einmal wieder aufgehoben ist, werden diese Themen wieder aktueller denn je.
RND/Barbara Barkhausen, Felix Lill, Katrin Pribyl, Sebastian Moll, Birgit Holzer, Tobias Käufer