Mit 11 Jahren im Heim: Fynn (25) erzählt von seiner schwierigen Kindheit
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Mobbing und keine Freude: So erlebte Fynn seine Kindheit. (Symbolbild)
© Quelle: Ksenia Makagonova/Unsplash.com
Ein liebevolles Elternhaus mit zwei Elternteilen. Eine tägliche warme Mahlzeit. Eine motivierende Stimme bei den Hausaufgaben. Ist das selbstverständlich? Viele Menschen in Deutschland würden diese Frage zweifelsohne bejahen. Doch die Realität für Kinder spricht auch eine andere Sprache: Armut. Schläge. Vergewaltigung. Nicht zwangsläufig in Kombination. Laut der Polizeilichen Kriminalstatistik 2019 wurden vergangenes Jahr mehr als 4000 Kinder geschlagen und misshandelt – durchschnittlich 43 täglich sexuell missbraucht. Die Dunkelziffer sei groß, warnte BKA-Chef Holger Münch bei der Vorstellung der Zahlen.
Kürzlich berichteten wir über Jeremias Thiel. Er kommt aus einer Familie voller Armut. Mit elf Jahren geht er zum Jugendamt und sagt: “Ich will weg von meinen Eltern.” Das ist acht Jahre her. Heute studiert er in den USA. Er hat sich selbst eine Perspektive geschaffen. In den sozialen Medien wurde sein Interview weit verbreitet, viele Nutzer bekundeten Respekt für den Mut, den Thiel bereits als Elfjähriger aufbrachte. Darunter waren auch Kommentare von Menschen, die sagten, sie haben Ähnliches erlebt. Fynn (25) hat uns seine ganz persönliche Lebensgeschichte erzählt, um anderen Betroffenen Mut zu machen, nicht zu schweigen, sondern aufzustehen und die Stimme zu erheben.
Fynn, 25: Schwieriger Start ins Leben
Fynn kann sich nicht an seine komplette Familiengeschichte erinnern. Er weiß, dass er zwei Tanten hat und einen Onkel – die Geschwister seiner leiblichen Mutter. Bei ihr wächst er auf. Sie hat schon seit jungen Jahren mit Depressionen zu kämpfen. Fynn hat einen angeborenen Herzfehler, für die bestmögliche Behandlung zieht er mit seiner Mutter früh aus seiner Heimatstadt weg. Da seine Mutter psychisch krank ist, leben sie im Frauenhaus. “Doch es ging von einer Einrichtung in die nächste”, erzählt Fynn, “Bis ich 11 Jahre alt war, bin ich bestimmt dreizehn- oder vierzehnmal umgezogen.”
Seinen leiblichen Vater lernt der Junge erst im Alter von 8 Jahren kennen. Ein Jahr später bekommt er noch eine jüngere Schwester – dann erfährt er, dass er noch ältere Geschwister hat, die seine Mutter früh weggab. “Ich war das erste Kind, womit sie es versuchen wollte. Hinbekommen hat sie es aber nicht.” Fynn erfährt nie, was es heißt, eine Familie zu sein. Er wurde seinen Verwandten von seiner Mutter verschwiegen, erzählt er.
Mit 11 Jahren kommt Fynn ins Heim
Die Geburt von Fynns Schwester ist eine zusätzliche Belastung für die Mutter, sie leidet unter anderem an einer bipolaren Störung. Fynn lernt früh, sich um seine Mutter und um seine kleine Schwester zu kümmern. “Mit 8 oder 9 Jahren habe ich schon den ganzen Haushalt geschmissen, habe meine Mutter an Termine erinnert. Ich bin selbst zur Schule gegangen, habe meine Schwester später vom Kindergarten abgeholt und für sie gekocht.”
Als Fynn 11 Jahre alt ist, wendet sich seine Mutter an das Jugendamt. “Sie hat gemerkt, dass es so nicht funktioniert. Sie wollte für uns beide da sein, konnte aber nicht”, sagt er. Fynn soll mit seiner Schwester gemeinsam in eine Einrichtung kommen. Doch dann zieht er ins Heim, seine Schwester in eine Pflegefamilie – später wird sie adoptiert. Innerhalb des ersten halben Jahres dürfen die Geschwister sich nicht sehen, um sich besser einzugewöhnen. Später darf Fynn seine Schwester in der Pflegefamilie besuchen, auch er fühlt sich dort aufgenommen. “Aber als ich dann gesehen habe, dass sie jetzt eine intakte Familie um sich herum hat, verlor sich der Kontakt für mich. Weil ich gemerkt habe, dass es mir einfach nicht guttut zu sehen, dass sie das hat, was ich mir als Kind gewünscht habe”, erzählt Fynn.
Als Kind gibt Fynn sich die Schuld
Eine Adoption, wie später bei seiner Schwester, stand nie zur Aussicht, sagt er. Die Mutter will die Kinder nur für ein Jahr weggeben, sie möchte eine Therapie beginnen – aufgrund Drogenmissbrauchs, nicht allein wegen der psychischen Erkrankung. “In meiner Kindheit war sie häufiger nachts weg, kam sturzbesoffen nach Hause oder hatte andere Drogen intus. Manchmal blieb sie tagelang weg”, sagt der heute 25-Jährige. Die Therapien, die die Mutter anfängt, bricht sie immer und immer wieder ab. “Mit 16 Jahren habe ich dann gesagt, es reicht mir.” Doch erst mit 18 Jahren schafft es Fynn dann, den Kontakt gänzlich abzubrechen.
Als Kind gibt er sich häufig die Schuld dafür, dass seine Mutter krank ist. “Weil ich nicht realisiert habe, was genau los ist und was die Ursprünge sind – sie hat auch nie etwas erzählt”, weiß er heute. Deshalb ärgert sich der 25-Jährige über Kommentare unter dem Interview von Thiel in den sozialen Medien, die Thiel eine Schuld zuweisen. “Ich finde, wenn man sich zu dem Thema äußert, dann sollte man beide Seiten kennen oder sich wenigstens damit beschäftigen. Aber nicht einfach vorschnell urteilen.”
Freunde zu finden ist schwer
Fynn hat Glück im Unglück. Er kommt in einer relativ guten Einrichtung unter, lebt mit sieben anderen Kindern dort und hat ein eigenes, großes Zimmer. “Aber es ist trotzdem keine Familie. Die Elternteile zum Binden sind einfach nicht da”, sagt er. Die Betreuer geben sich zwar Mühe, den Kindern eine Kindheit zu schenken, doch häufig wechseln sie. Fynn baut teilweise ein gutes Verhältnis zu ihnen auf. “Aber es fehlt die elterliche Nähe, die Liebe und Zuneigung. Es ist halt nur ‘auf das Leben vorbereiten’.”
Hinzu kommen Herausforderungen in der Schule. “Ich wurde regelmäßig gemobbt: ‘Ih, du Heimkind’. Ich habe mich deswegen gar nicht mehr getraut, meine Geschichte zu erzählen”, sagt Fynn. Aufgrund dessen hat er keine Schulfreunde, aber außerhalb der Schule trotz allem einen recht großen Freundeskreis. Doch zu ihm nach Hause, ins Heim, lädt er sie kaum ein. “Mir war es immer eher unangenehm, dass die Leute dann mitbekommen, wie ich aufwachse. Ich konnte nicht sagen: ‘Fühl dich wohl’. Ich empfand es eher als beschämend, Freunde zu empfangen.”
Innerhalb des Heims Freundschaften aufzubauen ist schwer. “Viele Kinder ziehen sich zurück. Gerade in jungen Jahren lassen sie den Kontakt nicht zu, wenn sie nicht realisieren, was passiert und warum sie hier sind”, erzählt Fynn. Doch eine junge Frau aus dem Heim bezeichnet er sogar als seine Schwester – zu ihr steht der 25-Jährige bis heute in Kontakt.
Fuß fassen im Berufsleben
Fynn lernt durch zahlreiche Pflichten früh, viel Verantwortung zu übernehmen. “Ich habe mich früh recht reif und erwachsen gefühlt. Aber nicht von den sozialen Kompetenzen her.” So zieht er mit etwa 18 Jahren erst mal in ein betreutes Wohnen, nicht in eine eigene Wohnung. Durch seine Betreuer festigt sich schnell sein Berufswunsch: Fynn möchte Sozialpädagoge werden. “Um Kinder aus ähnlichen Situationen zu unterstützen und ihnen mit meinen Erfahrungen herauszuhelfen”, sagt er. Doch der junge Mann merkt, dass er selbst noch mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen hat. Er bricht die Ausbildung frühzeitig ab und absolviert stattdessen sein Abitur in der Fachrichtung Wirtschaft.
Aufgrund der Corona-Krise verschiebt sich seine Ausbildung zum Finanzwirt, im September 2020 will er beginnen. Seinen Traum hat Fynn dennoch nicht aus den Augen verloren: “Ich überlege, nach meiner Ausbildung in die Sozialpädagogik zu gehen. Viele Kinder und Jugendliche haben Probleme mit Finanzen, weil sie den Umgang mit Geld nie gelernt haben.” So könnte er zwei seiner Leidenschaften verbinden.
Mehr Verständnis, Offenheit und Hilfe
Heute, so sagt Fynn, ist er glücklich – trotz allem. Er ist dankbar für seine Zeit im Heim. “Ohne das Heim wäre ich diesen Weg nicht gegangen.” Fynn lernt viel von den Betreuern und anderen Kindern, er entwickelt seinen Charakter so, wie er jetzt ist. Er wünscht sich mehr Toleranz für Menschen wie ihn, mit seiner Geschichte. “Ich finde, dass die Gesellschaft verlernt hat, menschlich zu sein”, sagt er. Sei es ihnen gegenüber oder Flüchtlingen gegenüber. Fynn glaubt, dass Menschen die Hilfe brauchen, häufiger abgewiesen werden, weil man deren Hintergründe nicht kennt oder verstehen möchte – weil viele selbst diese Lage nie kennenlernen durften. “Es geht nicht jedem Menschen so, wie einem selbst. Das sollte man einfach auch bedenken”, meint Fynn.
Darüber hinaus wünscht er sich, dass Kinder und Jugendliche, die ähnliches erleben oder erlebt haben, sich trauen, darüber zu sprechen. “Dass sie sich einfach jemandem anvertrauen, dem sie vertrauen können.” Der 25-Jährige findet, dass solchen Kindern mehr Verständnis und Offenheit entgegengebracht werden sollte und ihnen mehr ernsthafte Hilfe angeboten werden sollte. “Kinder können nichts dafür, wo sie geboren wurden. Man sollte weniger vorschnell urteilen und nicht die Schuld bei den Kindern suchen, sondern bei sich selbst, weil man hätte helfen können”, appelliert Fynn.
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