Mehr als bloße Daddelei: Darum helfen Computerspiele beim Lesen lernen
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Es müssen nicht immer Bücher sein: Auch Computerspiele können beim Lesenlernen helfen, sagen Experten.
© Quelle: imago/Westend61
Frau König, Herr Boelmann, Sie beide brechen eine Lanze für das Lesenlernen durch Apps oder Computerspiele. Was haben Sie gegen Bücher?
Jan Boelmann: Wir haben eine große Liebe für Literatur und für Bücher. Doch wir wollen Kinder nicht verinseln. Wenn wir sie auf das Leben vorbereiten, gehören alle Medien dazu, die in ihrem Alltag eine Rolle spielen. Computerspiele und Apps bieten tolle Potenziale fürs Lernen und Geschichtenerzählen, die klassische Bücher nicht haben.
Nämlich?
Boelmann: Dadurch, dass sie Formen wie Animationen, Geräusche oder Erzählerstimmen in den Text einbinden.
Lisa König: Man spricht dabei von Stützsystemen: Die digitalen Seiten bieten zusätzliche Informationen, die Kindern helfen können, sich Dinge vorzustellen, Worte zu entziffern und sich an Geschichten heranzutasten. Solche über mehrere Kanäle verknüpften Informationen unterstützen Kinder beim Verstehen.
Wie können Sie das belegen?
Boelmann: Die Potenziale mehrkanaligen Lernens kennen wir schon aus der Lehrlernforschung der Achtzigerjahre, und die Befunde wurden seitdem verfeinert, aber grundsätzlich bestätigt. Zugleich ist mehr nicht immer besser: Schlechte Animationen lenken zum Beispiel ab und helfen nicht beim Verstehen. Es kommt da sehr auf die Qualität an.
Andere Untersuchungen besagen, dass sich im Internet Gelesenes nicht so verfestigt wie Texte, die wir auf Papier lesen.
Boelmann: Wenn es um schwarze Buchstaben auf weißem Grund geht, hat ein Text im Internet keinen Mehrwert. Er ist dann genauso gut oder schlecht zu lesen wie auf einer gedruckten Seite. Wenn wir uns im Netz von Artikel zu Artikel klicken, lässt irgendwann die Konzentration nach und wir lesen die Texte nicht mehr zu Ende. Doch damit müssen wir alle lernen umzugehen. Vielleicht liest man sie irgendwann nicht mehr so gründlich wie einen Einzeltext auf Papier, aber rein handwerklich gibt es kaum Unterschiede.
Lernen Mädchen und Jungen unterschiedlich auf digitalen Seiten?
Boelmann: Wir waren vor unseren eigenen empirischen Untersuchungen davon ausgegangen, dass Mädchen vielleicht besser anhand von Texten lernen und Jungen mit Computerspielen. Doch das hat sich nicht bewahrheitet.
Es ist wichtig, dass Lehrer und Eltern bei der Auswahl von digitalen Medien ebenso hohe Qualitätsstandards anlegen wie bei Kinderbüchern. Wir lesen in der Klasse ja auch keine Schundromane.
Lisa König, Literatur- und Mediendidaktikerin
Aber besteht beim digitalen Lesenlernen nicht immer die Gefahr, dass Kinder durch Bilder und Geräusche vom Text abgelenkt werden?
Boelmann: Es gibt unglaublich schlechte Texte im Internet, es gibt aber auch sehr gute. Ein Beispiel: Bei einem Text über das Sonnensystem können Seiten mit viel zu vielen Bildern ablenken. Wenn man aber gute Grafiken oder Animationen hat, helfen die immens beim Verstehen. Der App-Markt ist voll von billig produziertem Schrott. Der sieht hübsch aus, blinkt und hat viele Effekte, aber keine hohe Qualität. Vieles wird schnell von Programmierern zusammengeschustert. Oft sind das reine Abfrage-Apps, die nach der Didaktik der Vierziger- oder Fünfzigerjahre gestrickt sind.
König: Deshalb ist es auch so wichtig, dass Lehrer und Eltern bei der Auswahl von digitalen Medien ebenso hohe Qualitätsstandards anlegen wie bei Kinderbüchern. Wir lesen in der Klasse ja auch keine Schundromane.
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Zur Person: Lisa König (25) ist akademische Mitarbeiterin für Literatur- und Mediendidaktik am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule Freiburg.
© Quelle: Michael Fuchs
Wie können sich Eltern oder Großeltern sicher sein, ob digitale Leselernhilfen etwas taugen?
König: Die Kultus- oder Bildungsministerien und auch die Stiftung Lesen geben Empfehlungen, an denen man sich gut orientieren kann und die einen zu entsprechenden Apps weiterleiten. Der Verein Mentor, mit dem wir zusammenarbeiten, baut auch gerade eine Datenbank zu Apps und ihren Anwendungen auf.
Boelmann: Eltern und Großeltern sollten vor allem auf Folgendes achten: Helfen die Animationen beim Verstehen oder lenken sie nur ab? Tests mit oberflächlichen Richtig-falsch-Antworten sind meist ein Hinweis darauf, dass die App nicht sonderlich sorgfältig gemacht wurde.
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Zur Person: Prof. Jan Boelmann (39) ist Professor für deutsche Literatur und ihre Didaktik mit dem Schwerpunkt Literatur- und Mediendidaktik am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Mit seiner Kollegin Lisa König berät er den Verein Mentor – Die Leselernhelfer im Projekt Digitaler Treffpunkt der Generationen zum digitalen Lesen und Geschichtenverstehen. Im Verein Mentor engagieren sich deutschlandweit 12.500 Ehrenamtliche, die rund 16.500 Kinder und Jugendliche beim Lesenlernen und Lesen unterstützen.
© Quelle: Privat
Sollte man Kinder zu Hause mit den interaktiven Seiten überhaupt alleine lassen?
Boelmann: Bis zur dritten, vierten Klasse sollte man sie auf jeden Fall begleiten. Ganz wichtig ist auch, dass nach einem Leselernspiel geredet wird. Gerade dann verfestigt sich das Angewandte, und das eigentliche Lernen beginnt.
König: Es ist genauso wie beim Bilderbuch: Wenn ich das mit meinem Kind angeschaut habe, sollte ich ja auch darüber sprechen.
Wenn Kinder und Jugendliche gern im Netz lesen, dann sollen sie das doch machen. Ich halte nicht viel davon zu sagen: Wir müssen das Lesen vor dem Internet beschützen.
Jan Boelmann, Literaturprofessor und Didaktiker
Klicksafe, die EU-Initiative für mehr Sicherheit im Netz, empfiehlt, dass Vier- bis Sechsjährige maximal 20 Minuten täglich online sein sollten. Sollten sie in dieser Zeit nicht einfach mal spielerisch daddeln dürfen?
König: Klar, Spielen ist unglaublich wichtig. Gerade durch spielerische Angebote lernen Kinder viel vernetzter. Ob bei kleinen Kindern aber das digitale Spielen immer sein muss, wage ich zu bezweifeln. Auch hier ist ein ausgewogenes Maß am wichtigsten.
Die Erfahrung zeigt, dass es in nahezu allen Familien Streit darüber gibt, wie lange Kinder online sein dürfen. Ist es nicht vernünftiger, wenn wenigstens das Lesen lernen analog bleibt?
Boelmann: Ich halte nicht viel davon zu sagen: Wir müssen das Lesen vor dem Internet beschützen. Wenn Kinder und Jugendliche gern im Netz lesen, dann sollen sie das doch machen. Und wenn sie ihre knappe Online-Zeit anders nutzen wollen, dann sollen sie das doch bitte auch machen. Abgesehen davon: Lesen ist ja keine Strafe, sondern etwas, was Kindern große Freude bereiten und ihre Entdeckerlust fördern kann.
Aber bleibt das Lesenlernen letztlich nicht eher ein soziales Problem, weil Kinder aus bildungsferneren Familien oft nicht so unterstützt werden wie der Nachwuchs der Studienräte oder Juristen?
König: Kinder aus unterschiedlichen Familien haben unterschiedliche Erfahrungsräume zur Verfügung: Kinder aus Akademikerfamilien sind meist einen Haushalt mit vielen Büchern gewohnt, andere Jungen und Mädchen machen ihre Erfahrungen vielleicht eher im Digitalen – mit Hörbüchern, Hörspielen, Comics, Computerspielen … Aber auch das sind literarische Erfahrungsräume.
Boelmann: Gerade in bildungsferneren Familien gibt es mediale Erfahrungen, die man für das Lernen nutzen kann. Schule ist da auch gefordert, Geschichten nicht immer nur mit Papier zu verknüpfen. Kinder, die solche Printerfahrungsräume nicht, aber durchaus literarische Kompetenz haben, sollten an Medien gefördert werden, die sie kennen.