Fehlbildungen bei Babys: Clara und ihre ungleichen Hände
Clara ist ein fröhliches Mädchen.
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Gerade mal sieben Wochen dauert die Schule jetzt, und sie hat schon vier Freundinnen. Eine gute Bilanz, findet Clara. Sie zählt alle auf, „und ein Junge ist auch mein Freund, Jonah“, fügt sie hinzu und zeigt dahin, wo er wohnt, und auf die Schule, die hinter der großen Wiese neben dem Spielplatz liegt. Sie schlägt sich vor die Stirn, wenn jemand etwas nicht verstanden hat, hebt die Arme, wenn etwas wichtig ist, und zählt an ihren Fingern.
Wenn Clara erzählt, dann spricht sie mit Worten und mit ihren Händen. Mit der großen und mit der kleinen. Als wäre da kein Unterschied.
Claras große Hand, das ist die linke. An der gibt es einen Handrücken, eine Handfläche und fünf Finger, vom Daumen bis zum kleinen. An ihrer kleinen Hand, der rechten, gibt es auch eine Handfläche und einen Handrücken, oder jedenfalls den Ansatz davon. Es gibt auch einen Finger, einen recht kleinen, aber mit Fingernagel, sie haben ihn auch schon mal lackiert. „Zauberfinger“, so nennen sie ihn. Jetzt geht sie zur Schule, erste Klasse, in diesem Neubaugebiet in Potsdam-Golm, in das sie gerade gezogen sind. Lauter neue Kinder also.
So geht es Clara in der Schule
Ob sie oft fragen, warum die kleine Hand klein ist?
„Jaha“, sagt Clara leicht genervt. „Jeden Tag.“
Was sie dann antwortet?
„Dass die im Bäuchlein nicht richtig gewachsen ist“, sagt sie, langsam und überdeutlich, als habe sie beschlossen, nachsichtig zu sein mit jenen, die aus ihrer Sicht eben ein bisschen schwer von Begriff sind und nicht wissen, was es mit kleinen Händen oder Füßen auf sich hat.
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Aber wieso sollte es den Schülern der Drachenreiterklasse in Potsdam-Golm da auch anders gehen als den meisten Menschen im Rest von Deutschland.
Gelsenkirchen: Mehrere auffällige Befunde
In der vergangenen Woche merkten viele erschrocken auf, als eine Nachricht aus Gelsenkirchen-Buer durch die Republik ging. Innerhalb von nur zwölf Wochen waren da in einer Klinik gleich drei Babys mit fehlenden Fingern oder Händen zur Welt gekommen. Eine Hebamme informierte die Medien, „60 Jahre nach Contergan-Skandal – Gift-Angst um unsere Kinder“, titelte „Bild“. Seitdem herrscht Unruhe in den Behörden der Länder, überall laufen Abfragen bei Kliniken, ob es weitere auffällige Befunde gab.
Clara mit ihrer Familie
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Bisher kennt niemand die Ursache für diese Ballung in Gelsenkirchen, genau genommen ist nicht mal klar, ob sie überhaupt eine gemeinsame Ursache hat oder ob diese Häufung schlicht Zufall ist. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn von der CDU warnte jedenfalls schon vor „Spekulationen aller Art“ und bat um Schlussfolgerungen erst, „wenn wir etwas wissen“.
Phänomen ist nach dem Contergan-Skandal nicht verschwunden
Nur spricht eben vieles dafür, dass es gar keine Erklärung geben wird und dass die Öffentlichkeit das lernen muss, was auch die Eltern von Clara akzeptieren mussten: dass das Phänomen von Fehlbildungen bei Neugeborenen mit dem Verbot von Contergan keineswegs verschwand. Dass es für die Dysmelien, so der wissenschaftliche Ausdruck, viele unterschiedliche und oft nicht die eine eindeutige Erklärung gibt. Und dass es am Ende eher darum geht, die Kinder mit so viel Selbstvertrauen auszustatten, dass sie sich nicht behindern lassen von einer Umwelt, die ihnen vielleicht nicht mal Fahrradfahren zutraut – und später schon gar keinen anspruchsvollen Job.
„Soll ich mal Rad schlagen?“, fragt Clara, und noch bevor sie eine Antwort hat, setzt sie an. Große Hand, kleine Hand, wieder auf die Füße. Noch nicht perfekt, aber es ist ein Rad.
Ganz normale Schwangerschaft
Es gab, erinnert sich Marisa Strobel, Claras Mutter, keine Warnzeichen in der Schwangerschaft. 36 Jahre ist sie alt, schmal, glattes blondes Haar, Redakteurin. Drei Jahre zuvor hatte sie schon eine Tochter geboren, Elisabeth, zwei gesunde Hände, keine Auffälligkeiten. Es war kein Risiko erkennbar.
Clara klettert gern.
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Später, nach Claras Geburt, hat sich Marisa Strobel noch mal die Ultraschallbilder angesehen. Aber Clara hielt ihren Arm da stets so, dass die kleine Hand tatsächlich nicht zu erkennen war.
Mehr: Ärzte fordern Register, um Fehlbildungen zu verfolgen
Entdeckt haben sie sie erst im Kreißsaal, nach der Geburt. „Ein kleiner Schreck war es schon“, sagt sie heute über diesen Moment, in dem sie, ermattet nach eineinhalb Tagen Wehen, das Händchen entdeckte. „Was ist mit der Hand?“, habe sie gedacht, so erinnert sie sich, und dann: „Da muss es doch ein Medikament geben, das die Hand wachsen lässt.“ Aber das gab es natürlich nicht. Heute lacht sie über den Gedanken.
Hebammen und Familie halfen über den Schreck hinweg
„Ich hätte vor der Geburt schon gerne Zeit gehabt, mich darauf einzustellen“, sagt Christoph Strobel heute. Nach dem ersten Schreck fanden sie dann dennoch zu einer gewissen Zuversicht zurück. „Wir sahen: Das Händchen ist nicht da, aber mehr scheint nicht zu sein. Das zählte“, sagt er heute. Das gelang ihnen wohl auch dank jener Ruhe, die ihnen Hebammen und Familie damals vermittelten. Und die im Gegensatz zu jener aufgeregten Debatte der vergangenen Woche steht.
Wenn Eltern sich schuldig fühlen
Es ist auch das Nichtwissen, das diese Hysterie schürt. Wie viele Kinder mit Fehlbildungen in Deutschland pro Jahr geboren werden, wird bislang nicht genau erfasst. Legt man Zahlen aus Kanada zugrunde, wo eine Untersuchung über mehr als drei Jahrzehnte auf eine Häufigkeit von gut fünf Fällen auf 10.000 Geburten kam, dann kämen in Deutschland pro Jahr knapp 400 Kinder mit fehlenden Fingern, Händen oder Zehen auf die Welt.
Es gibt viele Theorien zu den Ursachen
Und auch über die Gründe gibt es mehr Theorien als gesicherte Erkenntnisse. Für einen großen Teil sind offenbar Bänder verantwortlich, die während der Schwangerschaft einzelne Gliedmaßen abschnüren. Doch warum sie sich aus der Eihaut lösen, auch dazu gibt es wieder verschiedene Theorien. Es gibt in einigen Fällen offenbar genetische Ursachen. Auch bestimmte Medikamente können Fehlbildungen auslösen. Immer wieder betonen Experten jedoch, dass es den einen Grund, die eine Theorie nicht gibt. Das zu akzeptieren fällt jedoch vielen Betroffenen schwer – und Unwissen lässt immer viel Raum für Zweifel und Selbstvorwürfe.
Ganz frei davon war auch Marisa Strobel zunächst nicht. Die Foren im Netz sind voll von Menschen, die sich mit Fragen quälen, ob sie von irgendwas zu viel gegessen hatten oder zu wenig, ob sie diese Untersuchung besser hätten machen sollen und eine andere besser nicht. Es ist leicht für Eltern wie die Strobels, sich damit verrückt zu machen. Am Ende, das besagen Studien, Mediziner und auch der Austausch in der Selbsthilfe, gibt es für diese Vermutungen keinen Grund. Die Strobels haben inzwischen zu einer wissenschaftlich gestützten pragmatischen Gelassenheit gefunden. „Man kann es nicht bis ins Letzte ergründen“, sagt Christoph Strobel. „Wir sehen die kleine Hand heute als Laune der Natur.“
Der Contergan-Skandal hat Spuren hinterlassen
Laune der Natur, das ist auch eine Formulierung, die Ärzte oder Hebammen häufig verwenden, wenn sie die Fehlbildungen erklären wollen. Nur vermag sie nicht jene Debatten zu beruhigen, die sofort aufbranden, wenn irgendwo eine Häufung solcher Fälle bekannt wird. Der Contergan-Skandal, bei dem Ende der Fünfziger- und zu Beginn der Sechzigerjahre Tausende Kinder mit Fehlbildungen zur Welt kamen, hat Spuren in den Köpfen hinterlassen. Geblieben ist ein Zweifel. Und Angst.
Das war in Vorarlberg so, wo 2016 bekannt wurde, dass in zwei benachbarten Gemeinden von 300 Neugeborenen drei eine Fehlbildung aufwiesen. Eine statistisch signifikante Häufung, allerdings in einem Zeitraum von gut 30 Jahren. Trinkwasser und Umweltgifte wurden untersucht, Fragebögen analysiert, ohne Ergebnis. Ähnlich war es in Frankreich, wo „Babys ohne Arme“ in verschiedenen Departements immer wieder ein Thema in den Medien waren – auch hier fanden die Behörden keine Umweltgifte oder andere äußere Faktoren als Ursache.
Und jetzt also Gelsenkirchen. Kann es hier anders sein?
Ilse Martin sieht die Debatte jetzt jedenfalls mit gemischten Gefühlen. Geboren wurde sie 1953 auf einem Bauernhof in Hessen, mit einer Fehlbildung des linken Unterarmes. Sie wuchs auf mit Vorurteilen, Hänseleien und dem Gefühl, die Einzige mit so einem Arm zu sein. Erst mit über 30 traf sie zum ersten Mal jemanden, der ebenfalls eine Dysmelie hatte. „Niemand sollte so einsam sein, wie ich es war – das trieb mich an“, sagt sie heute.
Selbsthilfegruppe im Internet
So kämpfte sie sich bis an die Universität, machte mit 57 ihr Diplom als Heilpädagogin in Frankfurt, schrieb Bücher, gründete 2008 die Selbsthilfe Dysmelien e. V. und betreibt heute eine Facebook-Gruppe, in der bundesweit 800 Betroffene miteinander vernetzt sind.
Clara auf dem Spielplatz
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Die Fotos und Schlagzeilen jetzt, die Bilder von verängstigten Eltern, alles das könne ein Rückschritt sein, fürchtet sie – weil sie Panik vermittelten und das Gefühl, eine Fehlbildung sei das Ende allen Lebensglücks. Aber zugleich, sagt sie, liege in all dem eine Chance: dann, wenn tatsächlich ein Register eingeführt werde, das alle Fälle erfasst, wie es viele Ärztevertreter anregen. „Es wäre toll, wenn man endlich verlässliche Zahlen hätte“, sagt sie, wenn man endlich mehr wüsste.
Wissen statt Spekulationen
Auch Christoph Strobel würde ein solches Register befürworten. Sollten sich dadurch Muster erkennen und Ursachen oder Verursacher finden lassen, könnten sich Familien darauf einstellen oder möglicherweise Ansprüche geltend machen, sagt er. An den Spekulationen wird das aber wohl nichts ändern. Neulich kam ihre größere Tochter nach Hause und fragte ihre Mutter, ob sie in der Schwangerschaft mit Clara Alkohol getrunken habe. Sie hatte es irgendwo aufgeschnappt.
Clara hat schon einen Berufswunsch
Christoph und Marisa lassen sich dadurch nicht verunsichern, sie wollen „nach vorne schauen“, wie sie sagen, auf die Chancen. Derweil rennt Clara mit ihrer Schwester über den Spielplatz hinter dem Haus, sie hangelt, rutscht, schaukelt, klettert. Mit der kleinen und der großen Hand.
Sie hat jetzt übrigens eine neue Idee, sie wolle Tierärztin werden, sagt ihr Vater. Es hat ihn überrascht, und natürlich kann sich das noch ändern. Aber jedenfalls, so findet er, gibt es eigentlich keinen Grund, warum ihr das nicht gelingen sollte.
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