Endlich volljährig – wäre da nicht die Corona-Pandemie
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Auto fahren, ohne Sperrstunde die Welt entdecken und ausgelassen im Club feiern: Mit 18 Jahren steht einem die Welt offen – eigentlich.
© Quelle: Flo Karr/Unsplash
Hannover. Allein Auto fahren, bis in die Morgenstunden feiern und Horrorfilme im Kino gucken: Das und vieles mehr ist in der Nacht zum 18. Geburtstag plötzlich möglich, zumindest hierzulande. Doch wo früher vor dem Besuch in der Diskothek in großer Runde Cocktails gemixt wurden, herrscht heute gähnende Leere. Seit rund einem Jahr infiziert das Coronavirus den Alltag, Kontaktbeschränkungen und begrenzte Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung stehen auf der Tagesordnung. Was bedeutet das für eine Generation voller Energie und Tatendrang? „Es gibt ein hohes Verantwortungsbewusstsein in der Pandemie, aber auch eine große Frustration darüber, wie das Leben gerade reduziert ist“, sagt die Hildesheimer Sozialpädagogin Severine Thomas.
Denn eigentlich zählt in dieser Phase des Lebens vor allem eins: sich ausprobieren. Nach der Pubertät fangen Jugendliche herkömmlicherweise an, sich psychisch, körperlich und sozial zu entfalten. „Das sind Energien, die typisch und jetzt nicht nutzbar sind“, sagt Jugendforscher Klaus Hurrelmann dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Sie stauten sich seit Monaten an. „Bei jungen Leuten ist das ein erheblicher Anteil ihrer Lebenszeit. Das macht es für Jüngere zu einem heftigeren Einschnitt als für Ältere.“
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Die Pandemie und wir
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In der Pandemie fehlt es Jugendlichen an Kontrolle
Ich fühle mich, als ob mir ein Teil meiner Jugend, die besten Jahre, genommen wird. Normalerweise würde ich feiern, Sachen ausprobieren und neue Leute kennenlernen. Die letzten Schritte zum Erwachsenwerden gehen. Und dann würde ich mein eigenes Leben samt Reisen und Uni starten. Jetzt fehlen diese letzten Erfahrungen. Und dadurch, dass die Pandemie schon so lange anhält, ist ein Teil danach nicht nachholbar. Es ist nicht so, dass wir danach feiern gehen und dann passt das mit den Erfahrungen. Es fehlt einfach etwas.
Mats, 18 Jahre alt,
Zwölftklässler an einem Gymnasium
Am schlimmsten sei es für Jugendliche, das Gefühl zu haben, selbst keine Kontrolle mehr über die Situation zu haben, sagt Hurrelmann. Oft trete es im eigenen Elternhaus auf und führe zu innerer Anspannung und Ungeduld. Zwar hänge der Haussegen in 75 Prozent der Fälle nicht schief. „Allerdings haben Eltern die volle Einsicht in den Tagesablauf, alles ist durchsichtig. Das ist schon belastend und etwas, was vor allem im Jugendalter nicht gewünscht ist.“ Und auch die tägliche Routine selbst sorgt für Unzufriedenheit unter Schülerinnen und Schülern.
Man ist sehr allein im Gegensatz zu vorher. Meine beste Freundin ist mein einziger Kontakt momentan. Und es gibt kaum noch Abwechslungen zur Schule oder Arbeit. Ich stehe um 7.30 Uhr auf, setze mich an den PC und nehme am Homeschooling teil. Anschließend gehe ich arbeiten in einem Supermarkt. Die Hobbys fallen weg. Es ist sehr langweilig und zehrt sehr an der Psyche. Über Whatsapp oder Videoanrufe unterhalte ich mich auch mit Freunden und ich würde behaupten, dass die Stimmung gerade zu diesem Zeitpunkt, im April dieses Jahres, sehr schlecht ist. Ich weiß von vielen, die Depressionen entwickelt haben.
Mareike, 18 Jahre alt,
Zwölftklässlerin an einem Gymnasium
Depressionen, Ängste und Essstörungen nehmen zu
Das spiegelt sich auch in den Beobachtungen der Experten wider. Die Junge Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin beklagte vor kurzem eine „Zunahme mittlerweile schwer zu rechtfertigender massiver Einschränkungen und Gefährdungen des Kindeswohls“. Jugendlichen fehlten neben ihren Freunden, dem Erwerb sozialer Kompetenzen und dem spielerischen Lernen auch der geregelte Tagesablauf sowie außerschulische Aktivitäten.
Das führt teilweise zu tieferen Problemen. Denn in der Pubertät steigt laut Studien das Risiko für bestimmte psychische Erkrankungen. Die Pandemie wirkt wie ein Beschleuniger. Mehreren Studien zufolge ist der seelische Druck bei jungen Menschen im Vergleich zum Frühjahr gestiegen. „Die Jugendlichen werden depressiver, Ängste und Essstörungen nehmen zu“, sagt Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität München. Aktuell gebe es eine große Inanspruchnahme und viel Not in den Familien. Nach Schulte-Körnes Beobachtung bekommen auch Heranwachsende, die vor Corona vollkommen gesund waren, im Moment Probleme.
Hurrelmann dagegen betont, wie wichtig es sei, jetzt auf diejenigen zu schauen, die zuvor schon Schwierigkeiten hatten. „In einer Ausnahmesituation brennen sich Probleme regelrecht ein“, sagt er. „Dann ist es möglich, dass Jugendliche merken: Hier ist jetzt eine psychische Störung entstanden.“ Ein Beispiel hierfür ist dem Jugendforscher nach die Flucht ins Internet: Auch dieser Trend sei schon lange erkennbar und habe sich im Laufe der Krise intensiviert. Aber Hurrelmann erklärt auch, dass sich 70 Prozent der Heranwachsenden in der Pandemie noch immer gut schlagen: „Hut ab vor der Leistung der jungen Leute: Die allermeisten arrangieren sich und beißen die Zähne zusammen. Sie sind sogar sehr diszipliniert.“ Und das, obwohl ein Großteil der Jugendlichen wegen der Bestimmungen zur Eindämmung des Virus nicht mal die Chance hatte, die eigene Volljährigkeit zu feiern.
Wenn Jugendliche die eigene Volljährigkeit nicht feiern können
„Ich bin während der Corona-Pandemie, im September 2020, 18 Jahre alt geworden. Da waren die Kontakte so eingeschränkt, dass ich nur mit meiner Familie gefeiert habe. Ich hab aber immer noch die Hoffnung, dass ich dieses Jahr nachfeiern kann“, sagt Mats. „Ein Jahr später, wenn du 19 bist, deinen 18. Geburtstag zu feiern, ist nicht optimal, aber okay.“
Ähnlich erging es Mareike. Zwei Wochen vor ihrem 18. Geburtstag hatte die Bundesregierung neue Kontaktbeschränkungen beschlossen. Als es soweit war, waren nur Treffen mit einer Person aus einem weiteren Haushalt erlaubt. „Natürlich hatte ich andere Erwartungen und Vorstellungen. Ich hab mich immer auf diesen Tag gefreut, wollte eine riesige Feier machen“, berichtet sie. Eine Möglichkeit, diese Feier nachzuholen, habe sich bis heute nicht ergeben.
Ich vermisse es, mit vier/fünf Freunden in den Getränkemarkt zu gehen, einen Kasten Bier zu kaufen und loszuziehen. Das hat immer Spaß gemacht. Ich bin nie in Clubs gegangen, weil ich das immer mit 18 Jahren machen wollte – und das geht jetzt nicht. Ich möchte einfach wissen, wie das ist.
Manuel, 18 Jahre alt,
Zwölftklässler an einem Gymnasium
Was es bedeutet, im Jugendalter gezwungenermaßen auf lange Partynächte zu verzichten, unterschätzen Ältere Hurrelmann zufolge oft. Sie müssten sich sich klar machen, dass Maßnahmen wie Ausgangsbeschränkungen anders wirken, wenn die eigenen Grenzen schon ausgetestet wurden. „Bei Jugendlichen wird so der Aufbau der Persönlichkeit an empfindlichen Stellen gestört.“
Eine Jugend ohne Feiern, Clubs und Kneipengänge – das ist gerade auch die Realität der 18-jährigen Emma: „Was mir fehlt, sind vor allem Partys“, erzählt die Gymnasiastin. „Wenn man jung ist, möchte man sich ausprobieren, die freie Zeit nutzen, bevor man ins Berufsleben einsteigt.“ Doch dafür die Corona-Regeln brechen? Das ist es den meisten von ihnen nicht wert. Jonas, 18 Jahre, kennt diese Gedanken nur zu gut: „Natürlich versucht man, einen Weg zu finden, um all diese Dinge zu erleben“, gibt der Realschüler offen zu. Nur sei die Angst vor einer hohen Geldstrafe deutlich stärker als der Drang Partys zu feiern. „Deshalb feiern wir im engen Familien- oder Freundeskreis“, erklärt er. Den Wunsch nach Erlebnissen zu unterdrücken und kaum Freunde zu treffen, fällt vielen dennoch schwer.
Natürlich treffe ich mich auch manchmal mit mehr als einer Person, das kann ich offen und ehrlich zugeben. Wir passen darauf auf, dass wir es nicht übertreiben, dass das Risiko so gering wie möglich gehalten wird. Aber ich glaube, man wird sonst irgendwann verrückt und ich verstehe auch jeden, der irgendwann sagt, dass es ihm zu viel wird. Der Mensch ist ein soziales Wesen, wenn das in unserem Alter komplett abgeschafft wird, können wir keinen zufriedenen Alltag führen.
Natalie, 18 Jahre alt,
Zwölftklässlerin an einem Gymnasium
Wie gut die Jugend die Krise übersteht, hängt davon ab, wie lange Corona noch anhält
Sobald die Impfquote in Deutschland steigt und die Zahl der Infizierten sinkt, kehrt Normalität zurück. Im besten Fall ist das Jugendforscher Hurrelmann nach schon im Herbst 2021 der Fall. Dann seien Lockerungen für Jugendliche denkbar. „Das würde reichen, um etwas nachzuholen und sich mit der Frage auseinanderzusetzen: Wie ist mein Leben als junge Frau oder junger Mann?“ Viele Dinge, die nun auf der Strecke bleiben, seien auch in einer Zeit nach der Pandemie noch zu bewältigen. „Die Ablösung von den Eltern, Aufbau von Freundschaft, oder einer intimen Beziehung – all das lässt sich nachholen“, ist sich Hurrelmann sicher.
Bis dahin bleibt jungen Menschen weiterhin nur die Option, sich etwas Abwechslung vom tristen Corona-Alltag zu verschaffen. Manuel zum Beispiel hat sich verstärkt Computerspielen zugewendet – und außerdem seine Freundin kennengelernt: „Sie kommt häufig vorbei und wir kochen und backen.“ Die Zeit zu zweit macht den ständigen Aufenthalt zu Hause für viele angenehmer. Dort hielt es Natalie irgendwann nicht mehr aus: „Ich gehe seit fast einem halben Jahr nicht mehr zur Schule, bin nur im Homeschooling“, beschreibt die 18-Jährige ihren Alltag. Deswegen habe sie sich einen Job gesucht: „Jetzt arbeite ich nebenbei in einem Supermarkt.“
Jugend in Corona-Zeiten: Nicht nur Partys bleiben auf der Strecke
Doch bei aller Frustration über den langweiligen Corona-Alltag und ausbleibende Partynächte wissen sie die Schüler: Sie verpassen gerade womöglich nicht nur den Spaß ihres Lebens – sie leiden auch unter Schulausfällen und mangelnden digitalen Unterrichtsangeboten. Viele von ihnen sorgen sich um die eigenen Studien- und Berufsaussichten. Im Rahmen einer aktuellen Untersuchung der Universitäten Hildesheim und Frankfurt gaben 46 Prozent der 7000 Befragten im Alter zwischen 15 und 30 an, Angst vor der Zukunft zu haben.
Es ist ungewiss, es ist gruselig, weil die Zukunftsplanung eingeschränkt ist. Vor zwei Jahren war man sich noch sicher, dass man viele Optionen haben wird, wenn man von der Schule runtergeht. Jetzt wirkt das Ganze nicht mehr so. Dementsprechend ist da eine gewisse Angst mit verbunden.
Emma, 18 Jahre alt,
Zwölftklässlerin an einem Gymnasium
Es sind Studien, die darauf hindeuten, dass verpasste Feiern und Geburtstage am Ende nicht die größten Probleme dieser Corona-Generation sein werden. Viel mehr Sorge bereitet ihm die Entwicklung in den Schulen: „Schwer haben es alle, die knapp dran sind mit ihren Leistungen“, sagt der Forscher. Die Monate des Homeschoolings hätten bei vielen Schülerinnen und Schülern an der Disziplin gezerrt: „Man hat verlernt zu lernen, man hat verlernt zu arbeiten“, fasst Hurrelmann zusammen. Wer jetzt einen Schulabschluss verpasst oder den Anschluss verliert, laufe Gefahr langfristig abgehängt zu werden – auch psychisch. Der Jugendexperte betont: „Wir müssen sorgfältig auf diejenigen schauen, die Schwierigkeiten haben“ – ob in Freundschaften, in der Schule oder im Elternhaus.
„Die Bildung darf nicht vernachlässigt werden“
Damit es bei möglichst wenigen jungen Menschen dazu kommt, gilt es, möglichst viele Menschen gegen das Coronavirus zu impfen. Gegenüber dem RND haben mehrere Jugendliche den Wunsch einer besseren Impfpolitik geäußert. Dann wäre auch eine verlässliche Öffnung der Schulen denkbar. Diesen Tag sehnt auch die 18-jährige Natalie herbei. Ihr Wunsch richtet sich auch an die Politik: „Ich hoffe, dass die Schulen wieder aufmachen – und, dass die Prioritäten anders gesetzt werden.“ Für sie sei es unverständlich, dass Geschäfte vielerorts wieder öffnen, Schulen allerdings geschlossen bleiben. Die Gymnasiastin erinnert die Regierenden an das, was für ihre Generation am wichtigsten ist: „Die Bildung darf nicht vernachlässigt werden.“
Mit dpa