Massive Kritik an der Elterngelddebatte: „Das ist zutiefst klassistisch und obszön“
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Mehr Solidarität in der Elterngelddebatte wäre wünschenswert, denn: „Laut sein, eine Lobby sein, das können vor allem Menschen mit Ressourcen, also mit Zeit und mit Geld“, sagt Autorin Mareice Kaiser. Die Belange jener Eltern mit wenig Geld finden hingegen politisch nur wenig Gehör.
© Quelle: dpa
Celsy Dehnert arbeitet seit Jahren zu den Themen Armut und Familie. Das mediale und politische Echo auf die Petition „Nein zur Elterngeld-Streichung“ der Unternehmerin Verena Pausder hat für die Mutter zweier Kinder einen extrem bitteren Beigeschmack: „Es ist einfach absurd, dass wir in Zeiten von größer werdenden Schlangen vor den Tafeln darüber sprechen, dass Menschen mit dem Dreifachen des durchschnittlichen Haushaltseinkommens behaupten, sich das Kinderkriegen nicht mehr leisten zu können“, sagt die Journalistin. Sie ist überzeugt: „An dieser Stelle kommen wir an einer Diskussion über Klassismus nicht vorbei“ – also um die Frage, ob und wie stark Menschen in unserer Gesellschaft aufgrund ihres sozialen Status diskriminiert werden.
Zum einen geht es um Sichtbarkeit, um Relevanz und Einfluss, auch im politischen Betrieb. „Laut sein, eine Lobby sein, das können vor allem Menschen mit Ressourcen, also mit Zeit und mit Geld“, sagt Autorin Mareice Kaiser, Autorin des Buches „Wie viel: Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht“.
Und tatsächlich: Während die Petition „Nein zur Elterngeld-Streichung“, in der sich Unternehmerin Verena Pausder für einkommensstarke Paare einsetzt, innerhalb weniger Stunden Tausende Unterstützer findet, sogar Finanzminister Christian Lindner unmittelbar reagiert, stoßen andere Petitionen, etwa zur Kindergrundsicherung oder zum Inflationsausgleich des Elterngeldes, zunächst auf wenig Resonanz.
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Elterngelddebatte nur eine Nebelkerze?
Pausder, die als politisch überaus gut vernetzt gilt, setzt damit ein Thema auf die politische und mediale Agenda, das maximal 5 Prozent der Eltern und ausschließlich gut situierte betrifft. Forderungen, von denen deutlich mehr Familien und vor allem jene aus dem unteren Einkommenssegment profitieren würden, finden indes politisch kaum Gehör. Dies sei kein Zufall, so die Kritiker, es werde nun offensichtlich, was längst zur Lebenswirklichkeit vieler Familien zähle. „Gerade die, die wenig Geld haben, spüren seit Jahrzehnten, dass vor allem bei Familienthemen gespart wird“, sagt Anne Dittmann, die gerade ihr Buch „Solo, selbst und ständig“ über die Bedarfe Alleinerziehender veröffentlicht hat. „Darum ist es nur logisch, dass ausgerechnet jetzt die Empörung groß ist, schließlich sind nun Menschen von Kürzungen betroffen, die mehr Geld haben.“
Journalistin Celsy Dehnert hält die Elterngelddebatte sogar für eine strategische Nebelkerze, um von Themen wie dem möglichen Scheitern der Kindergrundsicherung abzulenken. „Während sich gerade sehr gut verdienende Menschen aufregen, geht sang- und klanglos unter, dass arme Menschen weiter arm bleiben sollen“, so Dehnert. Mareice Kaiser fordert, das Schlaglicht wieder auf andere Themen zu lenken: „Seit Jahren liegen so viele andere familienpolitische Themen auf dem Tisch. Aktuell ist jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut betroffen. Darum muss es gehen, nicht um 1800 Euro für reiche Eltern.“
Während sich gerade sehr gut verdienende Menschen aufregen, geht sang- und klanglos unter, dass arme Menschen weiter arm bleiben sollen.
Celsy Dehnert, Journalistin
Doch Petitionsinitiatorin Verena Pausder wehrt sich gegen den Vorwurf, sich nur für die Belange Gutsituierter einzusetzen. Sie wolle keinen Reichenprotektionismus, sagt sie im Interview mit dem RND und wirbt in den sozialen Medien inzwischen auch für Themen wie die Kindergrundsicherung. Trotzdem gibt es weiterhin Kritik, vor allem an der Argumentation.
Leistung ist keine Frage des Einkommens
„Die Petition an sich finde ich gar nicht problematisch, sondern unterstützenswert“, betont Anne Dittmann. Wie Pausder glaubt auch sie, eine Elterngeldbeschneidung zementiere alte Rollenbilder und dränge Frauen in einer sensiblen Phase in Abhängigkeiten. „Wenn aber Menschen mit viel Geld sagen, sie seien die Leistungsträger und die Mitte der Gesellschaft, ist das zutiefst klassistisch und obszön“, so Dittmann. Denn darin verberge sich die Annahme, Leistung sei vor allem eine Frage des Einkommens. „In der Corona-Krise haben wir gesehen, wer die Gesellschaft am Laufen hält. Es waren die Pflegekräfte, Krankenschwestern, Erzieher oder Menschen im öffentlichen Verkehr. Und die arbeiten ebenfalls sehr hart.“
Wenn aber Menschen mit viel Geld sagen, sie seien die Leistungsträger und die Mitte der Gesellschaft, ist das zutiefst klassistisch und obszön.
Anne Dittmann, Autorin
Und wer bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 150.000 Euro von der Mitte der Gesellschaft spräche, verschiebe die Verhältnisse, kritisiert Celsy Dehnert. Es sei geradezu heuchlerisch zu behaupten, bei einem solchen Einkommen könnten Familien den Lebensstil nicht anpassen, um den Wegfall des Elterngeldes zu kompensieren, „wenn genau das doch von armen Eltern immer wieder gefordert wird. Ihnen sagen wir: Kinder musst du dir halt leisten können.“
Gleichberechtigung wird nicht bei reichen Eltern entschieden
Diese Anspruchshaltung, dass der Lebensstil der oberen 5 Prozent staatlich abgesichert wird, führe dazu, dass sich die weniger gut situierten Eltern weniger wert fühlten, glaubt die Journalistin. Dabei würden Bürgergeldbeziehenden nicht einmal die 300 Euro Mindestbetrag vergönnt – „und viele gut verdienende Menschen wissen noch nicht mal, dass man mit Bürgergeld gar kein Elterngeld bekommt. Es ist die Tatsache, dass die unteren Einkommensschichten bislang so viel Ignoranz erfahren haben, die sich einer breiten Solidarisierung mit den jetzt Betroffenen in den Weg stellt.“
Auch darum geht es gerade: Ob und wie wir für einander einstehen können. „Solidarität bedeutet nicht, sich für sich selbst oder Menschen, die uns ähnlich sind, einzusetzen“, findet Mareice Kaiser. Ein Girlboss mache noch keine gleichberechtigte Gesellschaft. Und auch zwei Girlbosse nicht. „Gleichberechtigung wird nicht bei reichen Eltern entschieden, sondern bei denen, auf deren Arbeit ihr Reichtum basiert: ihre Haushaltshilfen, die Erziehenden, die sich um ihre Kinder kümmern, während sie viel arbeiten. Das sind Kämpfe, die es zu unterstützen gilt.“
Für Anne Dittmann liegt in dem Streit ums Elterngeld auch eine Chance. „Nehmt uns mit in dieser Debatte!“, fordert sie auf. Mit Verena Pausder habe sie sich bereits ausgetauscht. Ziel sei es, ein breites Bündnis auf die Beine zu stellen, gegen Sparmaßnahmen, für die Absicherung von Kindern und mehr Wertschätzung für Familien. „Statt uns im Kleinen zu verlieren, müssen wir eher ins Größere denken“, sagt Dittmann, „denn wenn wir uns gegenseitig zum Schweigen bringen, ist niemandem geholfen.“
Hinweis: In einer früheren Version dieses Textes war der Titel von Anne Dittmanns Buch falsch angegeben. Wir haben das korrigiert.