Die Gamingfrage: Wie viel ist zu viel?
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Für viele Kinder sind Videospiele ein fester Bestandteil ihres Alltags.
© Quelle: Sebastian Kahnert/zb/dpa
Der Digitalpakt für Schulen ist geschnürt, das Smartphone gehört bereits für Grundschüler zum Alltag, und im Bus sitzen Kleinkinder auf Mamas Schoß und bewegen Daumen und Zeigefinger auf der Fensterscheibe auseinander, um die vorbeisausende Welt heranzuzoomen. Keine Frage: Die Grenzen zwischen analog und digital verschwimmen – zumindest für die Generation, die selbstverständlich in beiden Welten groß geworden ist.
Die Kehrseite dieser neuen Normalität ist exzessive Mediennutzung bis hin zu Sucht. Bereits 2018 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Computerspielsucht (Gaming disorder) als psychische Erkrankung anerkannt. Einer aktuellen repräsentativen Befragung des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag der Krankenkasse DAK und des Deutschen Zentrums für Suchtfragen nach zeigen rund 465.000 Kinder und Jugendliche ein riskantes bis krankhaftes Mediennutzungsverhalten. Das sind mehr als 15 Prozent der rund drei Millionen Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren, die regelmäßig am Computer spielen. Fast 80 Prozent dieser Risikogamer sind Jungen.
Doch auch Mädchen verlieren sich in der digitalen Welt – bei ihnen steht die soziale Interaktion ganz oben. Beliebt sind die Chat- und Selbstdarstellungswelten Whatsapp, Instagram, Facebook und Snapchat. Ganz besonders wichtig sind vielen die Likes als Bestätigung und soziale Anerkennung. Doch egal, ob Spielkonsole oder stundenlange Chats, Posts und Instagram-Storys, Jugendliche verbringen viel Zeit mit den digitalen Medien. Zu viel, finden zahlreiche Eltern, Lehrer und auch Medienexperten. Doch was ist zu viel? Was sind Alarmzeichen dafür, dass der Medienkonsum gesenkt werden sollte?
Eltern sollten genau hinschauen
Eva Hanel, seit 2002 Medienreferentin der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen, nennt das Grundprinzip, das Eltern nicht aus den Augen verlieren sollten. „Es geht immer um ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen der Nutzung digitaler Medien und dem ganz normalen Alltag, wie Schule, Sportverein, Treffen mit Freunden. Das muss sich ausbalancieren“, sagt sie. Darauf zu achten sei Aufgabe der Eltern.
Eine Aufgabe, die nicht immer ausreichend wahrgenommen werde. „Auch wenn es anstrengend ist, Eltern müssen sich da wirklich bemühen“, appelliert sie. Das findet auch Professor Christoph Möller, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Kinderkrankenhaus auf der Bult in Hannover und Leiter der Suchttherapieeinrichtung Teen Spirit Island, die bereits seit 2010 sechs Plätze für Medien- und Computerspielsucht vorhält. „Es spricht nichts dagegen, auch mal ein Computerspiel zu spielen“, sagt er, „wenn aber die Freunde kaum noch vorbeischauen, wenn Kinder sich nicht mehr verabreden, sich abkapseln, zurückziehen, Schulprobleme bekommen – dann sind das Warnhinweise“, sagt Möller.
Weitergehende Suchtkriterien sind: intensiver Medienkonsum über einen Zeitraum von mindestens einem Jahr, starke gedankliche Beschäftigung mit dem Computerspielen in den spielfreien Zeiten, Entzugserscheinungen wie Unruhe und Gereiztheit, die nur durch das Spielen verschwinden, sowie das Vernachlässigen von Pflichten wie Schule oder Ausbildung.
Medienmündige Eltern
Hanel findet es wichtig, dass Eltern die Spiele ihrer Kinder kennen. Nicht nur, weil sie so potenzielle Gefahren erkennen, sondern auch, weil sie das Verhalten ihrer Kinder so besser verstehen. „Eltern wundern sich, wenn sich ihr Kind ihrer Aufforderung, jetzt sofort den Computer auszuschalten, massiv, vielleicht sogar aggressiv widersetzt. Wer weiß, dass das gesamte Spiel, alle Erfolge und erreichten Levels dann verloren gehen, versteht die Reaktion besser“, sagt Hanel, „und kann beim nächsten Mal sagen: ,Spiel noch weiter bis zum nächsten Speicherpunkt, dann möchte ich, dass du aufhörst.‘ Das würde so manchen Konflikt in den Elternhäusern schon entschärfen.“
Ihrer Erfahrung nach sind insbesondere junge Erwachsene, die das Elternhaus bereits verlassen haben, gefährdet, mediensüchtig zu werden. Denn solange die Eltern da sind und regulierend eingreifen, den Tag strukturieren, zum Essen rufen, ihr Kind mit zu Ausflügen nehmen, mahnen und appellieren, läuft das Nutzungsverhalten meist noch nicht komplett aus dem Ruder.
Faszination Computerspiel
Die Faszination von Computerspielen führen Experten auf das interaktive Erlebnis zurück. Im Gegensatz zum passiven Rezipieren von Fernsehfilmen erleben Kinder und Jugendliche hier ihre Selbstwirksamkeit. Sie haben Einwirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, bergen Schätze, besteigen Berge, bauen Welten, besiegen Gegner. Sie werden belohnt, erleben sich beim Spielen mit anderen als Team, haben Spaß und Erfolg.
Was sich harmlos anhört, sehen Experten durchaus kritisch. Denn gerade das ausgeklügelte Belohnungssystem der Spiele, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer nur virtuell existierenden Gemeinschaft sowie der Open-End-Modus der Spiele, die ständig neue Erlebnisse, Ziele und Level bieten, ohne greifbares Ende, bergen Suchtpotenzial. „Das Anforderungsniveau der Spiele wird individuell auf den jeweiligen Spieler abgestimmt“, erklärt Hanel. Die Systeme registrieren, wie gut der Spieler ist, und passen sich seinen Fähigkeiten an – gerade so, dass er weder unter- noch überfordert ist. Ein angenehmer Zustand, den die reale Welt so nicht bietet. Dem Spieler werden Frustrationen erspart, er kommt in einen Flow, ein Gemütszustand, der erreicht wird, wenn die gestellten Anforderungen den eigenen Fähigkeiten entsprechen und man sich, ohne den Sinn zu hinterfragen, ganz auf etwas fokussiert.
Medienreferentin Eva Hanel findet: Eltern sollten auf ein ausgeglichenes Verhältnis von Schule, Freunden und Gaming achten.
© Quelle: Eva Hanel
Medienreferentin Hanel findet, dass Kinder und Jugendliche sich in der digitalen Kommunikations- und Spielwelt insgesamt recht gut zurechtfinden. Voraussetzung sei, dass die Eltern ihrem Erziehungsauftrag gerecht würden und sich selbst Medienkompetenz aneigneten. Professor Möller plädiert dafür, die digitale Welt für Kinder möglichst spät zu öffnen. „Medienkompetenz beginnt mit Medienabstinenz“, ist er überzeugt. Bis zur Einschulung sollten Kinder deshalb möglichst medienfrei aufwachsen, und auch die Grundschule sollte sich überwiegend auf das analoge Lernen fokussieren.
Das frühe Heranführen an digitale Medien sei falsch. „Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, die belegen: Kinder lernen nicht digital. Je mehr digitale Medien in der Schule eingesetzt werden, desto schlechter sind die Schüler. Sie sind unaufmerksamer und abgelenkter.“ Riechen, fühlen, schmecken: Sinneserfahrungen in der Natur, im dreidimensionalen Raum, die Interaktion mit den Eltern sei gerade in jungen Jahren durch nichts zu ersetzen. „Die Persönlichkeit reift nur durch ein echtes Gegenüber“, sagt Möller.
Empfehlungen für Medienzeiten:
Die Empfehlungen, wie viel Zeit Kinder in welchem Alter pro Tag maximal mit Smartphone, Tablet oder Spielkonsole verbringen sollten, variieren. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und Klicksafe, eine Initiative der EU für Sicherheit im Internet, raten, darauf zu achten, dass folgende Zeiten nicht überschritten werden:
- 4 – 6 Jahre: 20 bis 30 Minuten in Begleitung der Eltern
- 7 – 10 Jahre: 45 Minuten
- 11 – 13 Jahre: 60 Minuten
- Ab 14 Jahren: Für Heranwachsende eignen sich feste, tägliche Benutzungszeiten nicht mehr. Besser ist es, gemeinsam ein wöchentliches Medienbudget zu vereinbaren, dass die Jugendlichen zur freien Verfügung haben.
Sinnvoll können auch sogenannte Mediennutzungsverträge sein, die Kinder und Eltern miteinander verbindlich schließen. Vordrucke gibt es unter www.mediennutzungsvertrag.de.