“Das Chaos um die Schulen ist zu unserem Alltag geworden”
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Eltern in Hamburg protestierten am 19. Juni mit ihren Kindern gegen weitere Schul- und Kita-Schließungen in der Corona-Krise.
© Quelle: Axel Heimken/dpa
Vielleicht rechnet meine sechsjährige Tochter gerade Minusaufgaben. Vielleicht bastelt sie Männchen aus Pfeifenputzern. Ich kann es nicht wissen, denn sie ist gerade gar nicht zu Hause. Sie ist tatsächlich in der Schule! Wie außergewöhnlich dieser Zustand ist, zeigt mir der Blick ins andere Kinderzimmer: Dort sitzt die elfjährige Schwester noch immer allein an ihren Aufgaben. Das Chaos um die Schulöffnung, es ist zu unserem Alltag geworden.
Eigentlich geht meine große Tochter in die fünfte Klasse der hiesigen Gesamtschule. Seit nunmehr drei Monaten aber geht sie höchstens mal die Treppe rauf oder wieder runter. In ihr Zimmer hinein oder heraus. Unterricht hat sie fast nie. Rollierendes System nennt sich das, was in NRW die Schüler seit Mitte Mai zumindest in kleinen Lerngruppen und an einzelnen Tagen wieder zurück in die Schulen bringt und ihr bisher ganze drei Präsenztage mit Unterricht bescherte.
Wer zur Schule darf, unterscheidet sich von Land zu Land
Anders die Sechsjährige: Die darf seit einer Woche wieder täglich in die Grundschule. Und unsere Jüngste geht auch wieder in den Kindergarten. Meine Freundin aus Bayern schickt ihre Kinder auch wieder in die Grundschule: eine Woche den Erstklässler, eine Woche die Viertklässlerin. Hätte sie aber ein Kind in der dritten Klasse, bliebe das die ganze Zeit zu Hause.
Ob und in welchem Umfang Schulen öffnen, unterscheidet sich nicht nur von Bundesland zu Bundesland, sondern auch von Schule zu Schule. Immerhin: Steigt das Infektionsgeschehen nicht deutlich an, sollen nach den Sommerferien alle Schulen wieder so etwas wie Regelbetrieb anbieten, entschieden die Minister der Kultusministerkonferenz. Gesichert sei der normale Schulbetrieb aber noch nicht, sagte Bildungsministerin Anja Karliczek am Sonntag in der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”.
Statt zwei Wochen nur noch ein Tag Schule
Dass bei den Schulöffnungen auf die Abstandsregel von 1,5 Metern verzichtet werden soll, bringt den Ministern aber viel Kritik ein. Ohne diese Regel können mehr Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden. Das Risiko einer Infektion könnte aber steigen. In Nordrhein-Westfalen wird darauf schon seit Anfang dieser Woche in den Grundschulen verzichtet. Meine mittlere Tochter hat mit alle ihren 26 Klassenkameraden Unterricht, muss aber im Klassenverband bleiben. Um mögliche Infektionsketten nachvollziehen zu können, dürfen sich die Gruppen auf keinen Fall mischen. Darum beginnen die Klassen zeitversetzt mit Unterricht und Pausen. Mutiert nicht gerade eine Fleischerei in der Nähe zum Corona-Epizentrum, werden die Kinder auch weiterhin täglich Unterricht haben – zumindest bis zu den Sommerferien. Also für genau eine Woche.
Etwas, das eigentlich auch der Fünftklässlerin seit vergangenem Montag in gewissem Umfang zustünde. Das Oberverwaltungsgericht entschied am 12. Juni, dass auch an weiterführenden Schulen bei festen Lerngruppen auf den Abstand verzichtet werden und der Präsenzunterricht ausgebaut werden könnte. Passiert ist aber seither nichts. Statt zwei Wochen täglichen Unterrichts, wie es nach dem Urteil möglich wäre, hat meine große Tochter in diesem Schuljahr noch genau einen Tag Schule vor sich – und zwar, um ihr Zeugnis abzuholen.
Schulöffnungen noch vor den Sommerferien – lohnt sich das überhaupt?
Hinter vorgehaltener Hand ist aus manchen weiterführenden Schulen zu hören, dass man sich den Stress für zwei Wochen nicht mehr antue. Und ich kann es ihnen nicht einmal verübeln. Es ist ja auch wirklich mühsam: Seit Wochen brüten sie über immer neuen Notfallkonzepten, tüfteln an Besetzungsplänen für Unterricht und stecken Flächen auf Pausenhöfen ab. Kollegen fallen aus, weil sie zur Risikogruppe gehören, Mütter wie ich nerven herum, weil es keinerlei digitalen Austausch gibt. Aber sie bringen sich auch um die Gelegenheit, wichtige Erfahrungen zu machen.
Lehrergewerkschaften sehen das anders. “Wir hätten gerne auf die Öffnung der Grundschulen verzichtet und die Zeit vor den Ferien dazu genutzt, vernünftige Konzepte für das nächste Schuljahr zu erarbeiten”, sagt etwa Berthold Paschert, Pressesprecher der GEW NRW. Die Öffnung sei auch ein unnötiges Risiko für Lehrer und Kinder. Eine Position übrigens, die durchaus auch Elternverbände teilen. Andere Eltern wiederum sind dankbar für jeden Tag, den die Kinder überhaupt betreut werden. Auch ich schreibe diesen Text hier deutlich leichter, wenn die Pfeifenputzermännchen in der Schule und nicht an meinem Schreibtisch gebastelt werden.
Es geht um mehr als nur Betreuungsfragen
Es geht aber um mehr als nur Betreuungsfragen: Es geht um das Recht auf Bildung und um das Wohl der Kinder. Schule ist schließlich nicht nur ein Gebäude, in dem Lehrkräfte arbeiten und Tafeln stehen. Sie ist Begegnungsraum für Jugendliche und Schutzraum für Kinder, die Gewalt und Empathielosigkeit zu Hause erfahren. Es braucht keinen künstlichen Pathos, um zu sagen: Für diese Kinder zählt wirklich jeder einzelne Tag, an dem die Schulen für sie geöffnet sind. Gerade für die sozial benachteiligten Kinder, und das sind immerhin um die 20 Prozent, sind die Schulschließungen eine absolute Katastrophe.
Sozial benachteiligte Kinder verlieren schon durch die Sommerferien den Anschluss
Für Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani sind Grundschulen, die für alle Kinder noch vor den Ferien geöffnet sind, in erster Linie ein wichtiger Praxistest. “Wir müssen diese Phase jetzt nutzen, um aus ihr zu lernen. Um einen konkreten Plan zu haben, wie das ab dem nächsten Schuljahr funktionieren kann”, sagt El-Mafaalani. “Denn länger sollten die Schulen auf keinen Fall geschlossen bleiben.” Frühere Studien zeigten, wie sozial benachteiligte Kinder schon durch die Sommerferien den Anschluss verlören. Mehrere Monate ohne Schule könnten oft noch Jahre später in der Lernentwicklung nachgewiesen werden und, wenn noch weitere hinzukommen, bis zum Erwachsenenalter kaum noch zu kompensieren sein, so der Bildungsforscher. Wie immer in dieser Zeit ist es ein Abwägen zwischen Kosten und Risiko.
Sorgen darüber, dass meine große Tochter in der Form den Anschluss verlieren könnte, mache ich mir nicht. Sie hat aber auch Eltern, die sie jederzeit fragen, und ein eigenes Zimmer, in das sie sich zurückziehen kann. Doch die Zeit geht auch nicht spurlos an ihr vorüber. Auch sie ist manchmal traurig, vermisst ihre Klasse und auch die Lehrer. Sonst konnte sie die Sommerferien nie erwarten, heute aber sagt sie nur: “Ich freue mich aufs nächste Schuljahr.”
Darum ist das so kompliziert mit den Schulöffnungen
Grundsätzlich ist Schule Ländersache. Daher entscheiden die Kultusminister der einzelnen Bundesländer darüber, ob Schulen in der Corona-Zeit geöffnet oder geschlossen werden. In der Corona-Zeit hatte bislang jeder seine eigene Linie verfolgt. Nun hat sich die Kultusministerkonferenz (KMK) darauf geeinigt, nach den Sommerferien Schulen im Regelbetrieb zu Pandemiezeiten laufen zu lassen, es sollen also Hygienepläne umgesetzt werden. Was das konkret bedeutet, ist allerdings unklar.
Ebenfalls unklar ist, welche Rolle Kinder bei der Ansteckung spielen – und nicht unwesentlich ist für die Frage, ob und in welchem Umfang der Schulbetrieb möglich ist. Während zu Beginn der Corona-Pandemie davon ausgegangen wurde, Kinder könnten die Pandemie befeuern, deuten heute viele Studien darauf hin, dass Kinder nur ein geringes Risiko tragen, selbst zu erkranken oder die Krankheit weiterzugeben. Es gibt aber auch Gegenbeispiele: In Israel etwa, wo der Coronavirus fast von der Bildfläche verschwunden war, rollt gerade eine zweite Welle an – vermutlich auch begünstigt durch geöffnete Schulen.