„Shou, wir stehen hinter dir!“: Wie US-Teens um Tiktok kämpfen
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Diese Tiktokerinnen und Tiktoker wehren sich gegen das mögliche Aus für die App.
© Quelle: Tiktok / Montage RND
Hannover. Die Tage der beliebten Teenie-App Tiktok könnten gezählt sein – zumindest in den USA. Eine Gruppe von Politikerinnen und Politiker beider großer Parteien setzt sich seit Wochen vehement für ein Verbot der Social-Media-Plattform ein. Die Anhörung von Tiktok-Chef Shou Chew im US-Kongress vergangene Woche war der vorläufige Höhepunkt der hitzigen Debatte.
Die US-Abgeordneten – sichtlich abgeneigt – löcherten Chew stundenlang mit allen möglichen Fragen. Es ging um den möglichen Einfluss Chinas auf die App, um die mögliche Weitergabe von Nutzerdaten – und um Regeln, die Kinder und Jugendliche schützen. Die größte Sorge der Politikerinnen und Politiker: Sie befürchten ein nationales Sicherheitsrisiko durch die beliebte Plattform.
Tiktok sei, mit all seinen fragwürdigen Challenges, eine Gefahr für Kinder und junge Erwachsene, glauben einige. Schlimmer aber wiegt, dass das Tiktok-Mutterunternehmen Bytedance seinen Sitz in Peking hat. Welchen Einfluss die chinesische Regierung auf dieses und die Daten von Millionen Nutzerinnen und Nutzer hat, ist bis heute völlig unklar – aber dass sie einen hat, ist nicht unwahrscheinlich. Tiktok selbst, wie auch dessen Chef Shou Chew, dementieren dies seit Jahren vehement, so auch vor dem Kongress. In den USA sind die Verbotspläne jedoch so konkret wie nie zuvor – Beschäftigte der Bundesbehörden dürfen die App schon jetzt nicht mehr auf dem Diensthandy nutzen.
Die Tiktok-Jugend protestiert
Genau das ruft inzwischen viele junge Amerikanerinnen und Amerikaner auf den Plan. Auf der Plattform Tiktok selbst verbreiten sich unzählige reichweitenstarke Videos von jungen Menschen, die gegen die möglichen Verbotspläne lautstark mobil machen.
Geteilt werden tausendfach Ausschnitte der Anhörung Chews, die von vielen Nutzerinnen und Nutzern als unfair aufgefasst und dementsprechend kommentiert wird. Zu sehen sind Clips von Kongressmitgliedern, die offenbar noch nie von der App gehört haben oder technische Zusammenhänge nicht verstehen. Einer fragt etwa, ob sich Tiktok mit dem heimischen WLAN verbinden könne. Natürlich muss das Smartphone eine Internetverbindung haben, um die App nutzen zu können – im Zweifel über WLAN. Nutzerinnen und Nutzer machen sich über die Fragen lustig, teilen Zusammenschnitte und kommentieren sie – einige haben Parodien gedreht.
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Gleichzeitig wird der Tiktok-Chef, der bislang öffentlich kaum in Erscheinung getreten war, wie eine Art Popstar gefeiert – ja, fast schon verehrt. Ein Grußvideo des 40-Jährigen hat inzwischen mehr als 30 Millionen Aufrufe, sein Tiktok-Privataccount wuchs über Nacht auf mehr als 500.000 Followerinnen und Follower.
„Shou, wir stehen hinter dir! Alle 150 Millionen von uns“, kommentiert hier eine Nutzerin. „Tiktok hat mein Leben verändert“, schreibt eine andere – ihre Community bedeute ihr alles. Eine weitere schreibt: „Ich habe über Kultur, Geschichte, mentale Gesundheit und Probleme gelernt. Ich habe gelächelt, gelacht und geweint mit dieser App – sie hat mich jeden Tag geheilt.“
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Endlich eine Stimme
Andere Nutzerinnen und Nutzer haben eigene Videos gedreht, um für ihre Plattform in die Bresche zu springen. Tiktok sei ein Medium, das jungen Menschen endlich eine Stimme gegeben habe, so lautet oft der Tenor. Eine Plattform, auf der sie endlich Gehör gefunden hätten. Viele begreifen die Pläne der US-Politik als eine Attacke auf ihre Meinungsfreiheit.
Eine Nutzerin namens Anna etwa erklärt in einem Video, sie habe nicht mal 1000 Follower und kein Geld – und trotzdem biete ihr Tiktok eine Stimme. Der Algorithmus sorge dafür, dass Millionen Menschen von heute auf morgen ihr Video sehen könnten. Eine Macht, die zuvor so nicht da gewesen sei – und vor der sich die „wohlhabende Elite“ offenbar fürchte, glaubt die Amerikanerin.
Kevin, ein junger Mathelehrer, erklärt, auf Tiktok sei es wie auf keiner anderen Plattform möglich, ein Publikum für sein Interesse zu finden – und sei es noch so nischig. Leute würden einfach drauf los erzählen – und der Algorithmus bringe sie zu denjenigen, die ganz ähnliche Interessen hätten. Keine andere Plattform habe das je so geschafft. Auch er selbst habe das erfahren.
No-Names werden zu Superstars
Die Verlustängste leuchten ein. Kaum eine Plattform hat in den vergangenen Jahren die Internet-, Jugend- und Popkultur geprägt wie Tiktok – was nicht zuletzt mit den intelligenten Empfehlungsalgorithmen der App zusammenhängt. Die Startseite der App ist kein Feed von Menschen, denen man folgt – sondern ein Videostream, der allein auf Interessen basiert und immer neue Videos vorschlägt. Weder Instagram, das zum Meta-Konzern gehört, noch Googles Youtube haben es bislang geschafft, technisch zu der chinesischen Plattform aufzuschließen.
Auf Tiktok wurden junge Musikerinnen und Musiker über Nacht zum Superstar – einfach nur, weil ihre Sounds verbreitet und dann von unzähligen Menschen in Videos verwendet wurden. Comedyvideos, Tänze oder Meinungsstücke erreichen auf Tiktok ein Millionenpublikum, obwohl sie von ganz normalen Menschen stammen.
Viele von ihnen schafften mit Tiktok den Weg zur großen Influencerkarriere, der ihnen bei anderen Plattformen bislang verwehrt blieb. Und selbst diejenigen, die nicht die große Internetkarriere anstreben, werden hier schnell gehört.
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Wie ein Glücksspiel
Was wie eine herausragende technische Errungenschaft klingt, sehen andere seit Jahren kritisch:
- Die sogenannte For-You-Page Tiktoks ist aufgebaut wie eine Slotmaschine, mit der man sich durch einen nicht enden wollenden Strudel von Kurzvideos swipen kann. Schluss ist nur, wenn sich der Nutzer oder die Nutzerin aktiv dafür entscheidet – und ein Ende zu finden kann angesichts des Entertainment-Faktors ganz schön schwer sein.
- In fragwürdigen Livestreams können Nutzerinnen und Nutzern derweil ihren Idolen Geldgeschenke machen, was zu allerhand fragwürdigen Inhalten führt. Nicht selten wird der Mechanismus der App von Kritikerinnen und Kritikern auch mit einem Glücksspiel vergleichen.
- Auch stand Tiktok in den vergangenen Jahren immer wieder wegen problematischer Challenges in der Kritik. Die Infrastruktur der Videoplattform ist auf das Nachahmen von Videotrends ausgerichtet – sobald Nutzerinnen und Nutzer einen Trend entdecken, wird dieser hunderttausendfach reproduziert. Gefährliche Wettbewerbe waren in der Vergangenheit keine Seltenheit. Tiktok hatte immer wieder beteuert, schädliche Inhalte von der Plattform zu entfernen, reagierte aber auch häufig zu langsam.
Unklare Verbindungen zur chinesischen Regierung
Und dann wäre da eben noch der unklare Einfluss Chinas auf die App. Die App gehört zu Bytedance, einem Unternehmen mit Sitz in Peking, das dem chinesischen Recht unterliegt. Laut diesem sind chinesische Unternehmen gezwungen, die Regierung zu unterstützen, wann immer sie darum bittet. Kritikerinnen und Kritiker befürchten, Tiktok könne Nutzerdaten an die chinesische Regierung weitergeben – oder die Kommunistische Partei könne die Plattform als Propagandamittel nutzen, indem es bestimmte Inhalte durch den Algorithmus befeuert – und andere zurückhält.
Im Dezember waren zudem Fälle bekannt geworden, in denen US-Journalisten von Mitarbeitern des Unternehmens Bytedance ausspioniert worden waren. Konkret wurden die IP-Adressen der Reporter untersucht, um Leaks im eigenen Unternehmen ausfindig zu machen. Die betroffenen Mitarbeiter wurden entlassen – und Tiktok verurteilte das Vorgehen scharf.
Tiktok selbst hatte in den vergangenen Jahren immer wieder beteuert, dass es Schutzmechanismen gebe, um die Daten von US-Bürgerinnen und US-Bürgern von Bytedance und damit auch der chinesischen Regierung abzuschirmen. Tiktok-Chef Shou Chew betonte in der Kongressanhörung, das Unternehmen habe seine Büros in Singapur und Los Angeles, die App Tiktok existiert nicht einmal in China.
Ein fieser Plan von Meta?
Wirft man nun einen Blick auf die Reaktionen von jungen Amerikanerinnen und Amerikanern auf der Plattform Tiktok, dann wird die China-Problematik meist gar nicht erwähnt – in manchen Videos heruntergespielt. Die amerikanischen Tech-Konzerne seien ja genauso schlimm, heißt es da oft – auch diese würden schließlich Daten sammeln.
Die meisten Videos beschäftigen sich vor allem mit den Ängsten, sollte die Plattform tatsächlich abgeschaltet werden – nicht mit der Kritik an Bytedance. Und als Feind in der Debatte haben viele vor allem ein Unternehmen auserkoren: den amerikanischen Tech-Riesen Meta.
Hinter dem Tiktok-Verbot stecke in Wirklichkeit Mark Zuckerberg, ist eine häufige Erzählung, die aktuell in Dutzenden Videos auf der Plattform verbreitet wird. Dieser befürchte Konkurrenz für sein Tech-Monopol, heißt es da – also betreibe er aggressive Lobbyarbeit bei politischen Akteuren, um die App aus dem Markt zu drängen.
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Schlechte Bewertungen für Facebook
Der Erzählung liegt durchaus ein wahrer Kern zu Grunde: Im vergangenen Frühjahr war bekannt geworden, dass Meta eine Beratungsfirma beauftragt hatte, um mit Kampagnen Tiktok in ein schlechtes Licht zu rücken. Von einem Verbot der Plattform würde Meta unbestritten am meisten profitieren. Ob das Unternehmen allerdings vor dem US-Kongress eine Sonderstellung hat, ist zweifelhaft. Dessen Chef Mark Zuckerberg hatte sich selbst 2018 dort verantworten müssen, nachdem der Datenskandal um Cambridge Analytica bekannt geworden war.
Die Erzählung allerdings hat längst eine Eigendymanik entwickelt. Nutzerinnen und Nutzer haben begonnen, ihre Profilbilder auf Meta-Plattformen mit dem Foto von Tiktok-Chef Shou Chew zu ersetzen. In Apples App Store werden die Facebook- und Instagram-Apps mit schlechten Bewertungen geflutet.
„Support Tiktok“, ist da zu lesen. In einem anderen Kommentar heißt es: „Lobbyarbeit im Kongress um Tiktok verbieten zu lassen, ist nicht der Weg, wie ihr Nutzer zurückbekommt.“ Andere greifen sarkastisch die viel diskutierte WLAN-Frage eines Abgeordneten auf und bewerten Facebook damit schlecht: „Ein Stern, Facebook verbindet sich mit meinem WLAN“. Mittlerweile hat die Facebook-App nur noch zwei von fünf möglichen Bewertungssternen.
User spinnen Verschwörungstheorien
Dabei jedoch bleibt es nicht. Auf der Plattform Tiktok verbreiten sich seit der Anhörung Chews auch zahlreiche Videos mit verschwörungstheoretischen Inhalten. So ist in vielen Clips etwa von einer „gleichgeschalteten Presse“ zu hören. Ein junger Nutzer namens Chris wirft den Medien vor, bei der Berichterstattung über die Anhörung zu „lügen“. Der Meta-Konzern würde nicht nur Politikerinnen und Politiker bestechen – er besitze auch „die Medien“, und Zuschauerinnen und Zuschauer seien „Sklaven des Systems“. Hunderte Kommentatorinnen und Kommentatoren, darunter bekanntere Influencer, applaudieren begeistert.
Tatsächlich besitzt Meta keines der US-amerikanischen Nachrichtenunternehmen. Die Theorie, „die Medien“ handelten im Dienste dubioser Mächte, ist derweil aber eine gängige rechte Verschwörungserzählung. Nicht selten endet sie mit der Theorie, „die Juden“ seien Strippenzieher hinter allem möglichen, also auch hinter den Medien. Eine Theorie, die im Falle von Meta wie die Faust aufs Auge passt: Zuckerberg ist selbst Jude.
Eine weitere, oft verbreitete Erzählung in zahlreichen Tiktoks: Die US-amerikanische Politik habe ein Interesse an der Spaltung der Gesellschaft – darum sei ihr die Plattform Tiktok so ein Dorn im Auge. „Die Politik will nicht, dass wir miteinander reden“, philosophiert ein Nutzer namens Christopher in einem viel beachteten Video. Alles führe zurück auf die Finanzkrise 2008, seither irritiere die Politik absichtlich seine Bürgerinnen und Bürger mit Nebensächlichkeiten, um von den wahren Problemen abzulenken. Die App Tiktok habe ihm ganz andere Sichtweisen eröffnet – genau das wolle die Politik jetzt mit einem Verbot zerstören.
Wie repräsentativ die Flut derartiger Videos auf Tiktok ist, ist nicht ganz klar. Über das, was auf der Plattform verbreitet wird und Beachtung findet, entscheidet natürlich auch in diesem Fall der hauseigene Algorithmus. Tiktok, Bytedance und in letzter Konsequenz wahrscheinlich auch China dürften die vielen kritischen Videos jedenfalls in die Hände spielen.
Kampf um die Meinungsfreiheit
Eine vergleichsweise seriöse Protestströmung versucht derweil, zu retten, was noch zu retten ist. „Wir müssen jetzt überall sein. Wir müssen jede Plattform fluten, schreibt eure liebsten Influencer an“, ruft eine Nutzerin mit dem Nickname „Crutches and Spice“ auf. Jeder müsse davon erfahren und sein Wort erheben.
Viele Nutzerinnen und Nutzer befürchten, dass das Ende von Tiktok einen massiven Einfluss auf die Redefreiheit haben könnte – und das Internet im schlimmsten Fall für immer verändern könnte.
Der neue Aktivismus erinnert an die großen Proteste gegen die umstrittene Urheberrechtsreform in der EU im Jahr 2019 – seinerzeit bekannt als „Artikel 13″. Auch damals hatten viele junge Leute im Netz und auf den Straßen gegen die Reform demonstriert. Auch damals war vielfach und mit drastischen Worten das Ende des Internet heraufbeschworen worden. Das Horrorszenario hatte sich nach Einführung allerdings nicht bewahrheitet – und der umstrittene „Artikel 13″ ist längst in Vergessenheit geraten.
Auswirkungen des Tiktok-Banns unklar
Auch im Falle eines Tiktok-Verbots dürften die Auswirkungen vermutlich etwas geringer ausfallen als vielfach propagiert. Ein früherer Versuch Donald Trumps, der nie umgesetzt wurde, hatte bereits 2020 gezeigt, wie ein solcher Bann unter Umständen aussehen könnte.
App-Stores etwa dürften Tiktok dann nicht mehr führen, auch Internet-Hosting-Dienste dürften den Diensten des Unternehmens keine Heimat mehr bieten. Denkbar ist auch, dass Unternehmen Werbung in der App untersagt wird und Influencerinnen und Influencer die Monetarisierungsmöglichkeiten der App nicht mehr nutzen dürfen.
Das bedeutet aber nicht, dass Tiktok dann gar nicht mehr aufrufbar wäre. Über den Webbrowser des Smartphones wäre dies – im Notfall per VPN-Verbindung – immer möglich. Auch bereits heruntergeladene Apps werden nicht automatisch von Telefonen gelöscht. Ein totales Verbot ist derweil noch gar nicht ausgemachte Sache: Möglich wäre auch, dass Bytedance gezwungen wird, Tiktok an ein amerikanisches Unternehmen zu verkaufen – beim ersten Versuch 2020 wäre dies fast passiert.