„Troll Dich!“: Virologe Drosten streitet bei Twitter mit RKI-Forscher über Corona-Sommereffekt
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Am Ende tat es ihm leid: Christian Drosten, Virologe bei der Berliner Charité, sorgte bei Twitter für Aufsehen, als er mit einem RKI-Wissenschaftler über die Entwicklung der Corona-Fallzahlen stritt.
© Quelle: imago/iStock/Twitter/RND-Montage Behrens
Ein weltweit führender Virologe der Berliner Charité liefert sich auf Twitter einen Schlagabtausch mit einem Wissenschaftler des Robert Koch-Instituts (RKI) – auch solche Szenen ermöglicht die Corona-Krise. Am Donnerstagvormittag setzte Christian Drosten einen Post passend zu seiner neuen Podcastfolge ab. Darin erklärte er, der Sommereffekt, auf den viele im Kampf gegen die Pandemie setzen, bewirke „nach derzeit konsensfähigen Schätzungen“ etwa 20 Prozent.
Als Kollege Kai Schulze eine Nachfrage bezüglich der Quelle stellte und auf andere Studienergebnisse – nämlich solche, die von einem Effekt von 40 Prozent ausgehen – verwies, erhielt er die Antwort: „Die Quelle und eine Begründung dazu hatte ich Ihnen ja 2h vor diesem Tweet per DM erläutert. Dass Sie das nicht interessiert, zeigt mir, dass es Ihnen nicht um Inhalte geht. Troll Dich!“ Auch diese Nachricht war Teil eines öffentlichen Beitrags.
Wie steht es also um den Sommereffekt – und auf welche Studien beziehen sich die Experten?
So erklärt Virologe Christian Drosten seine Angaben zum Sommereffekt
Die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen sinkt in Deutschland: Am Freitagmorgen haben die Gesundheitsämter im Land dem Robert Koch-Institut (RKI) 7380 neue Fälle gemeldet, die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz gab die Behörde mit 39,8 an. Zum Vergleich: In der Vorwoche hatte der Wert bei 67 gelegen.
Aus Sicht des Virologen Christian Drosten von der Berliner Charité hat die positive Entwicklung drei Ursachen: die verschärften Corona-Maßnahmen, die voranschreitende Impfkampagne und die saisonalen Effekte, die die Verbreitung des Coronavirus eindämmen. Allerdings riet er in seinem NDR-Podcast „Coronavirus-Update“ am Dienstag dazu, insbesondere den letzten Punkt nicht zu überschätzen – oder gar davon auszugehen, die steigenden Temperaturen allein brächten die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle.
In diesem Zusammenhang erklärte Drosten, die Übertragung von Sars-CoV-2 gehe in den Sommermonaten um 20 Prozent zurück. „Es ist nicht so, dass irgendjemand jemals behauptet hätte, es gäbe keinen Temperatureffekt“, sagte er. „Es ist aber auch nicht so, dass man davon ausgehen könnte, dass die Temperatur das alles erledigt.“
Der Virologe verwies auf andere europäische Länder, in denen es zuletzt zwar warm, doch die Zahl der täglichen Corona-Neuinfektionen hoch war, etwa Griechenland. Zu Beginn des Monats seien die Inzidenzwerte dort gestiegen, die Temperaturen hätten scheinbar keinen Einfluss auf die Covid-19-Lage genommen.
Sommereffekt: Charité-Virologe bezieht sich auf vergleichbare Viren
Eine Quelle für die prozentualen Angaben lieferte Drosten im direkten Zusammenhang mit den Aussagen zwar nicht. In einem kommentierenden Tweet, einer weiteren Reaktion auf Schulzes Kritik, erklärte er jedoch, auf welchen Daten seine Angaben fußten.
Auch in der Vergangenheit hatte sich der Virologe bei seinen Aussagen zur Saisonalität des Coronavirus, ebenso wie andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, vor allem auf Erfahrungen mit anderen humanen Coronaviren, auch bekannt als Schnupfenviren, bezogen. So hatte Drosten etwa bereits in Folge 78 des Podcasts Anfang März auf die „sehr gute Studie“ von der Gruppe um Marc Lipsitch und Stephen M. Kissler verwiesen, die im Fachmagazin „Science“ publiziert ist.
Im Rahmen der Untersuchung begründen die Forscherinnen und Forscher den Vergleich der Viren wie folgt: „Sars-CoV-2 gehört zur Gattung Betacoronavirus, zu der auch das Sars-CoV-1-Coronavirus, das Mers-Coronavirus (Middle East Respiratory Syndrome) und zwei weitere HCoVs, HCoV-OC43 und HCoV-HKU1, gehören.“ Letztere gelten demnach als zweithäufigste Ursache für Erkältungen und verursachen in gemäßigten Regionen jährliche Ausbrüche von Atemwegserkrankungen im Winter, „was darauf hindeutet, dass das Winterklima und das Verhalten des Wirts die Übertragung erleichtern können, wie es bei der Influenza der Fall ist“. Heißt im Umkehrschluss: Im Sommer sind die Chancen der Viren geringer, sich auszubreiten.
Außerdem, so schreibt es das RKI in seinem Coronavirus-Steckbrief, kann die Saisonalität der Erreger je nach Klimazone unterschiedlich ausgeprägt sein: „Während in Europa stärkere saisonale Effekte beobachtet werden, lassen sich in (sub)tropischen Regionen weniger starke Effekte feststellen.“ Dabei bezieht sich die Behörde ebenfalls auf endemische Humancoronaviren.
Dass die Expertinnen und Experten auf dem Gebiet für ihre Prognosen vergleichbare Viren heranziehen, bedeutet Drosten zufolge auch: Derzeit sind ohnehin nur Einschätzungen über die saisonalen Effekte von Sars-CoV-2 möglich. Es fehle für verlässliche Aussagen schlicht die Datengrundlage, erklärt er in der Podcastfolge vom Dienstag.
Lediglich ein Blick auf den vergangenen Sommer bietet Anhaltspunkte: Die Sieben-Tage-Inzidenz lag im Mai, Juni und Juli unter fünf und bis September unter zehn. An einigen Tagen wurde kein einziger Sterbefall im Zusammenhang mit dem Virus gemeldet. Erst im Oktober begannen die Fallzahlen wieder zu steigen.
Wie ausgeprägt ist der Sommereffekt in der Pandemie?
RKI-Wissenschaftler Schulze zog zur Untermauerung seiner Aussagen zwei Studien heran: Zum einen bezog er sich auf eine rund einen Monat ältere Studie des Teams um Marc Lipsitch und Stephen M. Kissler, deren Erscheinungstag im April 2020 lag, zum anderen auf eine Studie, die erst kürzlich, im April 2021, veröffentlicht wurde.
Dabei wird die Auswirkung der Saisonalität auf die Ausbreitung des Coronavirus modelliert. Und tatsächlich kommen die Forscherinnen und Forscher dabei auf eine 40-prozentige Effektivität des Sommereffekts. Sie stellen außerdem wie das RKI fest, dass die Saisonalität in höheren Breitengraden stärker ausgeprägt ist – und geben ebenfalls zu bedenken: „Saisonalität allein reicht nicht aus, um die Virusübertragung so weit einzudämmen, dass keine Interventionsmaßnahmen mehr erforderlich sind.“ Allerdings sei es ratsam, die Kapazitäten für die Gesundheitsversorgung auf neue Schwankungen der Fallzahlen in der kommenden kalten Jahreszeit vorzubereiten.
Eine weitere Studie, auf die Schulze im Rahmen der Diskussion verwies, geht wiederum von einer deutlich geringeren Effektivität des Sommereffekts, nämlich von 17 Prozent, aus. Sie wurde im November vergangenen Jahres veröffentlicht. Auch hier entwickelten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Modelle, um das maximale Potenzial von Covid-19 weltweit vorherzusagen. Und auch hier treffen sie im Rahmen der Untersuchung die Einschränkung: „Die Unsicherheit über die Entwicklung bleibt jedoch hoch.“
Die Erkenntnis, die sich daraus für den RKI-Wissenschaftler ergab, fand sich ebenso in dem dazugehörigen Post wieder: „Verschiedene Papiere kommen auf unterschiedliche Werte.“ Und womöglich ist genau das das entscheidende Ergebnis der Twitter-Debatte. Immerhin eint die Studienautorinnen und ‑autoren eine Ansicht: Nur durch saisonale Effekte endet die Pandemie nicht.
Charité-Virologe Christian Drosten entschuldigt sich öffentlich auf Twitter
Letztlich endet die Debatte zwar mit einer Entschuldigung, auf ihrem inhaltlichen Standpunkt beharren beide Seiten dennoch.
Auf Drostens öffentliches Entschuldigung hat Schulze bislang nicht reagiert. Doch er kommentierte am Freitagvormittag bei Twitter einen Artikel der Tageszeitung „Bild“, die zuerst auf die Diskussion der beiden Wissenschaftler aufmerksam gemacht hatte. Es handele sich bei den Posts um ein Missverständnis und das sei mittlerweile geklärt, schrieb er.
Für Aufregung hat dieses Missverständnis allemal gesorgt. Die Twitter-Community beteiligt sich noch immer rege an der Debatte: Der Ausgangspost des Virologen der Berliner Charité zählt am Freitagnachmittag (Stand: 28. Mai 2021, 16.34 Uhr) 6101 „Gefällt mir“-Angaben und 964 Retweets. Der Aufruf „Troll Dich!“ gefällt zu diesem Zeitpunkt immerhin 451 Userinnen und Usern.