Streamen statt spielen: Musik liegt in der Luft
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Vom Musikarchiv zum digitalen Dauerstream: Streaming-Dienste wie Spotify haben die Digitalisierung der Musikbranche konsequent durchexerziert.
© Quelle: Jaap Arriens/NurPhoto/picture alliance
Hannover. Am 16. Mai 1888 steht ein Mann im Franklin Institute in Philadelphia, vor sich einen kolossalen Apparat mit Drähten, Schläuchen und Spulen. Der schwarze Trichter sieht aus wie der Hut eines Zauberers. „Mit dieser Maschine“, prophezeit der Mann den versammelten Wissenschaftlern, „werden künftige Generationen in der Lage sein, das tonale Abbild eines ganzen Lebens auf eine Scheibe zu komprimieren.“ Und: Sänger, Redner, Bühnenkünstler würden eines fernen Tages Tantiemen aus dem Verkauf ihrer „Phonoautogramme“ beziehen.
Es ist der Startschuss für eine kulturelle Revolution. Emile Berliner, 1870 mit rudimentärer Ausbildung von Hannover in die USA ausgewandert, hatte das mechanisch reproduzierbare Hörerlebnis erfunden. Seit diesem Tag war Musik, war die menschliche Stimme anfassbar, tragbar und archivierbar. Zwar klinge Berliners Prototyp noch „wie ein leidlich trainierter Papagei mit kratziger Kehle und verschnupftem Kopf“, ätzt der Nähmaschinenfabrikant Elridge Johnson. Trotzdem baut er das seltsame „Grammophon“ in Serie – mitsamt jenen schwarzen Platten aus Gesteinsmehl, Ruß, Pflanzenfasern und Schellack, die für Generationen zum Symbol werden sollten für den Soundtrack des Lebens.
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Das Grammophon: Der Startschuss für die Musikindustrie
Die globale Musikindustrie ist geboren. Aus den Jazzkellern der Zwanziger über den Hüftschwung von Elvis und die Gegenkultur der Sechziger bis zu den kokainbefeuerten Hedonistenpartys der Achtziger verdienen Plattenfirmen Milliarden von Dollar mit dem tiefen Bedürfnis der Menschen nach Musik, die ihr Fühlen, Lieben, Feiern und Trauern widerspiegelt.
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130 Jahre lang, bis heute, war Musik dabei auf Trägermedien gespeichert. Sie gehörte den Hörern, die sie gekauft hatten. Auf Schellackplatten, Magnetbändern, Vinylscheiben, auf liebevoll zusammengestellten Mixkassetten, auf CDs. Musik war wertvoller Besitz, die persönliche Sammlung ein intimer Ausweis von Stil, Geschmack und Geisteshaltung. „In den Rillen der Platten entdeckte ich eine neue Welt“, schrieb John Hammond, Entdecker und Förderer von Count Basie, Bob Dylan, Bruce Springsteen, Leonard Cohen, Aretha Franklin.
Von Spurrillen zu Nullen und Einsen
Dieses Zeitalter geht zu Ende. Vor zehn Jahren schon läuteten MP3-Downloads den Abschied von der CD ein. Musik wurde entgegenständlicht, zu einem amorphen Datensatz aus Nullen und Einsen.
Die Welt ist schon lange keine Scheibe mehr. Nun stirbt auch noch die Musik als persönlicher Besitz. In Zukunft ist Musik überall. Und der Musikkonsument wird zum Mieter seines eigenen Glückes.
Erstmals wird seit diesem Sommer in Deutschland mit Streaming mehr Umsatz gemacht als mit der guten alten CD. Streamingdienste wie Apple Music, Spotify oder Deezer verbuchten im ersten Halbjahr 2018 einen Zuwachs von 35,2 Prozent auf 348 Millionen Euro Umsatz. Der Anteil des Streamings am Musikmarkt: 47,8 Prozent. Das Geschäft mit CDs brach dagegen ein – um 24,5 Prozent auf 250 Millionen Euro. Der Anteil der CD am Musikmarkt: 34 Prozent, 10 Prozent weniger als im Vorjahr. Die Musikindustrie ist die erste Branche, die die Digitalisierung bis zum großen Finale durchexerziert hat. Bis zu dem Punkt nämlich, an dem sich das Produkt vollständig in Daten auflöst.
Im Spotify-Heimatland Schweden hat Streaming schon seit 2012 die Nase vorn, in den USA seit 2015. „Die Deutschen sind traditionell etwas zögerlicher, was digitale Trends betrifft“, sagt Florian Drücke, Chef des Bundesverbands Musikindustrie. Doch der Komfort ist unbestreitbar: 45 Millionen Titel auf Abruf. Das musikalische Gedächtnis der Menschheit auf dem Smartphone für 10 Euro im Monat.
Mit Streaming Geld verdienen? Ist schwierig
Aber es ist paradox: Nie wurde so viel Musik gehört wie heute – trotzdem kann kaum ein Künstler davon leben. Spotify zahlt pro abgerufenem Song zwischen 0,006 und 0,0084 Dollar. Ein globales Hitalbum kommt auf etwa 425 000 Dollar Umsatz pro Monat – Brosamen für die Plattenfirmen im Vergleich zu früheren CD-Umsätzen. Nur 5 bis 8 Prozent landen davon beim Künstler. Der britische Musiker Geoff Barrow hat eine bedrückende Rechnung aufgemacht: Für 34 Millionen Streams seiner Songs bekomme er 1900 Euro netto – von Spotify, Apple Music und Youtube zusammen.
Youtube, das jüngst sein Streamingangebot Youtube Music gestartet hat, ist am knauserigsten: „Youtube zahlt einen Euro pro Jahr und Nutzer an die Branche, während Spotify 18 Euro zahlt“, sagt Drücke. Das Argument der Google-Tochter: Man sei ja nur technische Plattform für andere und deshalb nicht verpflichtet, Lizenzgebühren zu berappen.
Die Jukebox: Das Streaming-Modell ihrer Zeit
Was die Musikbranche erlebt, ist mehr als ein Umbruch. Es ist eine Häutung. Aber technische Revolution und existenzielle Krise gehören seit Berliner zur DNA der Branche. Immer wieder zog sie ihren Kopf aus der Schlinge. Und es gibt erstaunliche Parallelen zwischen dem heutigen Radikalumbruch und der rumpeligen Pionierzeit.
Erstes Beispiel: Niemand kauft mehr Platten? Willkommen im Jahr 1922. Das Radio schickt die Hersteller von Schellackplatten in die Krise. Als Berliner 1929 stirbt, liegt die einst so mächtige Phono-Industrie in Trümmern, die Musikindustrie schrumpft auf klägliche 5 Prozent ihrer Größe. „Das Publikum wird nicht bezahlen, solange es die Musik aus der Luft praktisch gratis bekommt“, schreibt der „Sydney Morning Herald“ 1931. Die Rettung ist die Jukebox. Sie ist quasi das Streaming ihrer Zeit: eine reiche Auswahl an Musik auf Knopfdruck, jederzeit verfügbar. 1934 gab es 25 000 Jukeboxes in den USA.
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Zweites Beispiel: Musiker, die klagen, weil sie an den Gewinnen nicht fair beteiligt werden? Willkommen im Jahr 1941: Die Radiosender verdienen Millionen durch die Ausbeutung der kreativen Arbeit anderer Leute – genau wie Youtube heute. Damals organisiert die US-amerikanische Musikverlegergewerkschaft Ascap einen zehnmonatigen Radioboykott. Heute verweigern sich – wenigstens zeitweise – Künstler wie Sven Regener, Herbert Grönemeyer, Garth Brooks oder Westbam den Streamern oder gründen lieber ihre eigene Plattform wie Rap-Star Jay-Z ("I'm not a businessman, I'm a business, man!"). "Wenn ich jemandem etwas schenken möchte, dann mache ich das persönlich", ätzte Ärzte-Sänger Farin Urlaub. Gerade freilich kam die Nachricht: Auch die Ärzte sind bald bei Spotify zu hören.
Elvis – der Erlöser der kränkelnde Musik-Branche
Immer wieder Bedrohungen, immer wieder Auswege. Die Rettung für die vom Radio zerzauste Branche brachte in den Fünfzigern eine technische Neuerung: die 7-Inch-Single mit 45 Umdrehungen pro Minute. Als Notarzt erwies sich ein nervöser junger Mann mit Akne, pink-schwarzem Outfit und viel Pomade im Haar, der im August 1953 in Sam Phillips Memphis Recording Service schlappte, um für 3,98 Dollar zwei Balladen für seine Mutter aufzunehmen: Elvis Presley.
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Zehn Jahre später explodierte der Britpop. Und Beatles-Produzent George Martin sagte: „Nachdem wir erst einmal das Ventil geöffnet hatten, schoss das Öl aus dem Boden. Es hörte nicht mehr auf zu sprudeln.“ Es war das goldene Zeitalter der Majors. Pop war Mainstream. Ein Milliardengeschäft. In England guckte an jedem Donnerstag ein Viertel der Bevölkerung die BBC-Musikshow „Top of the Pops“ – und kaufte alles, was dort zu hören war.
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Nach dem Discoboom: Thriller
Ende der Siebziger dann wieder ein Niedergang: Der Discoboom war vorbei, die Weltwirtschaft steckte in der Krise. Walter Yetnikoff, Chef von CBS, brauchte Geld – und rief einen jungen Musiker an, der seit dem Achtungserfolg „Off the Wall“ 1979 kein Album mehr veröffentlicht hatte. Der alarmierte seinen Produzenten. „Okay Jungs“, sagte Quincy Jones, als sich das Team im Studio traf – „wir haben uns hier versammelt, um die Plattenindustrie zu retten.“ Das Ergebnis: „Thriller“ von Michael Jackson – bis zur vergangenen Woche, als die Eagles mit ihrem Best-of-Album überholten, die meistverkaufte Platte der Geschichte in den USA.
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Die CD. Der voraussichtlich letzte Tonträger der Geschichte. Auf der Funkausstellung 1981 hatten Philips und Sony die kleine Silberscheibe präsentiert, die den Musikmarkt in kürzester Zeit aufmischen sollte. Dass die Laufzeit der zunächst als „steril“ verschrienen Compact Disc exakt 74 Minuten betrug, damit Sony-Vizepräsident Norio Oga als ausgebildeter Opernsänger Beethovens neunte Symphonie am Stück hören konnte, ohne den Tonträger zu wechseln oder umzudrehen, ist nach frischen Erkenntnissen eine sorgsam gepflegte Firmenlegende.
Das CD-Zeitalter begann am 17. August 1982, als in den Produktionsstätten der damaligen Polygram in Langenhagen das erste Album für den Verkauf produziert wurde: „Visitors“ von Abba. Die Plattenbosse konnten ihr Glück kaum fassen: Die Leute kauften die Musik, die sie schon auf Vinyl hatten, einfach noch mal – für 60 Prozent höhere Preise. Es folgte ein Goldrausch mit Silberscheiben. Es reichte, anderthalb Hits mit acht Füllern auf CD zu brennen, um ein Album an Menschen zu verkaufen, die eigentlich nur ein Lied wollten. 1983 kostete eine CD 30 bis 45 Mark.
Blind für die technische Revolution am Horizont
Die Labels wussten nicht mehr, wohin mit dem Geld. Es war dieser Wahn, der die Branche blind machte für die technische Revolution, die am Horizont nahte: die Digitalisierung. „Seit den Neunzigern wurden alle Plattenfirmen nur noch von Buchhaltern und Anwälten kontrolliert“, zürnte der legendäre Produzent Rick Rubin, der mit Johnny Cashs Spätwerk „American Recordings“ Popgeschichte schrieb. „Mit den Umsätzen wuchs die Dummheit.“ Ende der Neunziger steckte die Industrie in einer kreativen und technischen Sackgasse. Sie verscherbelte Billig-CDs in Drogerien und Supermärkten, während die künstlerische Sturmblüte unabhängiger Labels und Künstler an ihr vorbeiging.
Das silberne Zeitalter, der Boom der CD, war nur kurz. Denn die Menschen wollten einzelne Lieder zu Sammlungen zusammenstellen; die Plattenfirmen aber ignorierten diesen Wunsch. Erst mit dem Musikformat MP3 wurde es möglich, einzelne Songs runterzuladen. Auftritt: Napster, die illegale Downloadbörse. „Als die Profite dank illegaler Tauschbörsen zu schmelzen begannen, verhielt sich die Musikindustrie wie Nero im brennenden Rom: Sie holte die alte Leier heraus und tat so, als sei nichts passiert“, sagt Musikexperte Murphy.
Vom digitalen Musikarchiv zur ewigen Miet-Musik
Der nächste Retter war Steve Jobs. Der Apple-Gründer verzweifelte fast an den dickfelligen Musikmanagern. "Sie haben doch ihren Kopf im Arsch", schrie er eine Warner-Delegation an, die er von seiner legalen Downloadplattform iTunes überzeugen wollte. 2001 legalisierte er die digitale Musikrevolution. Erst 2014 wurde iTunes von Spotify und Youtube abgehängt. Seitdem sinken die Downloadzahlen rasant. Der Schritt vom digitalen Musikarchiv zum ewigen persönlichen Musikstream ist nun nur logisch.
Die Marktzyklen der Musiktechnologien verkürzten sich in rasantem Tempo: 80 Jahre lang war die Schellackplatte das Tonmedium der Wahl. Nur etwa 40 Jahre lang war die Langspielplatte das Nonplusultra. Parallel erlebte die Kompaktkassette etwa 35 goldene Jahre. Die CD dagegen büßt ihre Bedeutung schon nach 30 Jahren ein. Und die kurze, aber heftige Blütezeit der Downloads dauerte dann nur noch 15 Jahre.
Der vertraute Duft der Vinyl-Schallplatte
Musik zum Besitzen ist heute ein Nischengeschäft – etwa als Kinder-CDs oder auf duftenden 180-Gramm-Vinylschallplatten, gehütet von einer loyalen, solventen und gegen den Lockruf der Moderne unempfindlichen Kundschaft, die sich am warmen, runden Klang und der unvergleichlich seelenvollen Grauzone zwischen Nullen und Einsen erfreut.
130 Jahre nach Emile Berliner sind physische Tonträger auf dem Weg ins Museum. Die Schallplatte, das „Karussell der geistigen Welt“ (Joachim Ringelnatz), dreht sich nicht mehr. Musik liegt in der Luft, sie ist überall, wie Sauerstoff für die Seele, wie eine Welt in den Wolken.
Zahlen zur Musikindustrie
5,4 Prozent beträgt der globale Rückgang bei den Tonträgern wie CD, Platte oder DVD 2017 im Vergleich zum Vorjahr..
20,5 Prozent Rückgang weltweit verzeichnet der Umsatz durch Downloads.
54 Prozent beträgt 2017 der Anteil des digitalen am globalen Musikgeschäft.
41,1 Prozent mehr Umsatz: Die Einnahmen durch das Streamen von Musik haben 2017 im Vergleich zum Vorjahr enorm zugelegt.
8,1 Prozent mehr Einnahmen als 2016 hat die Musikindustrie 2017 weltweit generiert.
Von Imre Grimm