Russische IT-Fachkräfte siedeln massenhaft aus – was bedeutet das für andere Länder?
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Eine Frau programmiert an einem Laptop. Zehntausende IT-Fachkräfte haben Russland seit Beginn des Krieges bereits verlassen.
© Quelle: Britta Pedersen/dpa-Zentralbild/
Vilnius. Zehntausende russische Techspezialisten und -spezialistinnen schauen sich derzeit nach sichereren Jobs um. Bis zu 70.000 von ihnen haben einer Schätzung zufolge seit Beginn des Kriegs in der Ukraine ihrer Heimat den Rücken gekehrt – verschreckt durch das plötzlich eisige politische und wirtschaftliche Klima. Viele weitere dürften folgen. Manche Länder spekulieren bereits auf frische Expertise für ihre eigene Hightechindustrie.
Den russischen Präsidenten Wladimir Putin lässt die Abwanderung der Fachkräfte offenbar nicht kalt: Als Gegenmaßnahme befreite er vor wenigen Tagen alle Beschäftigten in der Informationstechnologie mit sofortiger Wirkung bis 2024 von der Einkommenssteuer.
Von Polen bis Kirgistan
Ein Teil der Exilanten hat nach eigenen Angaben keine Eile, nach Hause zurückzukehren. Eine privilegierte Gruppe mit EU-Visa hat sich in Polen oder den baltischen Staaten Lettland und Litauen angesiedelt. Ein größeres Kontingent wählte Länder, für die russische Staatsbürger kein Visum benötigen: Armenien, Georgien und die früheren Sowjetrepubliken in Zentralasien. In normalen Zeiten wandern umgekehrt Millionen weniger qualifizierter Fachkräfte aus diesen wirtschaftlich labilen Staaten in das vergleichsweise wohlhabende Russland aus.
Die freiberufliche Systemanalytikerin Anastasia aus dem sibirischen Nowosibirsk hat sich für Kirgistan entschieden, wo ihr Ehemann Verwandte hat. „Als wir (am 24. Februar) vom Krieg erfahren haben, dachten wir, dass es wohl an der Zeit ist zu gehen, wollten aber noch abwarten“, sagt die 24-Jährige. „Am 25. Februar haben wir unsere Tickets gekauft und das Land verlassen. Da gab es nicht viel zu überlegen.“
Die Angst vor der Meinungsäußerung
Wie viele andere russische Fachkräfte, die die AP kontaktierte, bat auch Anastasia um Anonymität. Moskau ist schon vor der Invasion in der Ukraine gegen Kritikerinnen und Kritiker vorgegangen, und auch im Ausland lebende Russinnen und Russen befürchten noch Repressalien. „Solange ich denken kann, war das Äußern der eigenen Meinung in Russland immer mit Angst verbunden“, sagt Anastasia. Der Krieg habe die Lage weiter verschärft. Einen Tag nach ihrer Ausreise hätten die Behörden angefangen, Menschen an der Grenze zu durchsuchen und zu verhören.
Das Ausmaß des IT-Exodus wurde in der vergangenen Woche vom Leiter des zuständigen Branchenverbands, Sergej Plugotarenko, offengelegt. „Die erste Welle – 50.000 bis 70.000 Menschen – hat bereits das Land verlassen“, sagte er vor einem Parlamentsausschuss. Nur die hohen Preise für Auslandsflüge verhinderten eine noch größere Massenabwanderung. Weitere 100.000 Tech-Expertinnen und -Experten könnten dennoch im April ausreisen, prognostizierte Plugotarenko.
Andere Länder und Unternehmen erleichtern Auswanderung
Das Unternehmen Untitled Ventures, ein Risikokapitalfonds mit Sitz in Lettland, unterstützt die Migration: Die Firma charterte zwei Flüge nach Armenien mit 300 russischen Tech-Spezialistinnen und -Spezialisten an Bord, wie der geschäftsführende Gesellschafter Konstantin Sinjuschin erklärt. Tech-Unternehmen in Russland mit internationaler Kundschaft hätten keine andere Wahl als ins Ausland zu gehen, da sich viele ausländische Partner rasch distanziert hätten. „Sie mussten das Land verlassen, damit ihr Geschäft überleben konnte“, sagt Sinjuschin. Aus demselben Grund seien zudem Fachkräfte aus Forschung und Entwicklung von ihren Zentralen ins Ausland abgezogen worden.
Unternehmen in umliegenden Ländern haben längst ein Auge auf die russischen IT-Spezialistinnen und -Spezialisten geworfen, die als hochqualifiziert gelten. So lockt etwa Usbekistan die Fachkräfte nun mit einem erleichterten Zugang zu Arbeitsvisa und Aufenthaltsbewilligungen. Der App-Programmierer Anton Filippow aus St. Petersburg und einige Freiberufler, mit denen er zusammenarbeitet, zog es schon vor Bekanntwerden dieser Anreize in die usbekische Hauptstadt Taschkent, wo Filippow aufwuchs.
„Am 24. Februar sind wir in dieser anderen, schrecklichen Realität aufgewacht“, sagt er. „Wir sind alle jung, jünger als 27, und hatten Angst, für diesen Krieg eingezogen zu werden.“ Einige seiner Kolleginnen und Kollegen wollten nicht unbedingt in Usbekistan bleiben, sondern womöglich irgendwann in andere Länder weiterziehen.
Auch Unternehmen wollen aussiedeln
In vielen Fällen wollen ganze Unternehmen ins Ausland umsiedeln, um negativen Auswirkungen der internationalen Sanktionen zu entgehen. Ein ranghoher Diplomat aus Kasachstan warb vor wenigen Tagen offen um ausländische Firmen. Das Nachbarland Russlands will seine Wirtschaft, die sich bisher vor allem auf Ölexporte stützt, insbesondere im High-Tech-Sektor breiter aufstellen.
Allerdings sind nicht alle Länder so interessiert an Tech-Exilanten aus Russland. In Litauen etwa seien russische Unternehmen oder Start-ups nicht willkommen, hieß es aus dem Wirtschafts- und Innovationsministerium in der Hauptstadt Vilnius. Die Regierung habe alle Bewerbungen für Start-up-Visa seit dem 24. Februar auf Eis gelegt.
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Fachkräfte als Chance - Unternehmen als Risiko?
Eine Rolle spielen dabei Sicherheitsbedenken und die Sorge, dass russische Fachkräfte im Ausland spionieren könnten. „Der IT-Sektor in Russland ist sehr eng mit den Sicherheitsdiensten verbunden“, sagt der politische Beobachter Marius Laurinavicius aus Litauen. „Ohne extrem aufwendige Prüfungsverfahren riskieren wir, Teile des kriminellen Systems aus Russland zu importieren.“
Fondsmanager Sinjuschin appelliert dagegen an westliche Staaten, ihre Türen für die Spezialistinnen und Spezialisten zu öffnen, um von der seltenen Anwerbemöglichkeit zu profitieren. „Je mehr Talente Europa oder die USA Russland heute wegnehmen können, desto mehr Vorteile werden diese neuen Innovatoren, deren Potenzial im Ausland voll erkannt werden wird, anderen Ländern bringen“, sagt er.
RND/AP