Arbeitswelt im Wandel: Zukunftsforscher sieht Banken und Versicherungen als Verlierer
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Die Digitalisierung verändert fast alle Branchen: Die Zukunft in den Fabriken ist vollautomatisiert.
© Quelle: Uwe Zucchi/dpa
Hannover. Dampfmaschine, Eisenbahn, Fabriken – die industrielle Revolution hat die Arbeitswelt vor 250 Jahren auf ein neues Fundament gestellt. Heute ist es die Digitalisierung, die für Tempo sorgt und einiges auf dem Markt neu sortiert. Vom großen Industrieunternehmen über den Mittelständler bis hin zum Soloselbständigen haben sich viele Unternehmen in den vergangenen Monaten im Schnellverfahren digitalisiert. Homeoffice wird auch nach der Pandemie ein gängiges Modell bleiben.
Doch welche Branchen sind die Verlierer, welche die Gewinner? Prof. Dr. Axel Haunschild, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover, beobachtet und analysiert diesen Wandel seit vielen Jahren. Im RND-Interview erklärt er unter anderem, welche Probleme die atypischen Beschäftigungsverhältnisse nicht nur momentan mit sich bringen – und welche Rolle der Mindestlohn dabei spielt.
Zahlreiche Experten hatten vermutet, dass die Corona-Pandemie für zusätzliche Turbulenzen in der Arbeitswelt sorgt. Doch die große Welle der Arbeitslosen ist bisher ausgeblieben …
Prof. Dr. Axel Haunschild: Ja, das stimmt. Denn anders als um Beispiel während der Finanzkrise 2008, halten sich die Firmen diesmal mit Entlassungen zurück. Das hat verschiedene Gründe.
Welche?
Wegen der gesunkenen Arbeitslosigkeit zum einen und der allmählich schrumpfenden Bevölkerung zum anderen befürchten viele, nach der Corona-Krise kein geeignetes Personal mehr zu finden. Zahlreiche Unternehmen nutzten deshalb lieber die staatlich bezuschusste Kurzarbeit. Und das ist der hauptsächliche Grund, warum in Deutschland die Entlassungen jetzt nicht dramatisch zugenommen haben. Unabhängig von Corona hat sich aber vieles in den Jahren auf dem Arbeitsmarkt verändert – das betrifft nicht zuletzt die Beschäftigungsverhältnisse.
Inwiefern?
Die Idee der Hartz-Reformen vor knapp 20 Jahren war ja unter anderem, den Arbeitsmarkt zu deregulieren und dadurch flexibler zu gestalten. Der Arbeitslosigkeit sollte durch Leiharbeit und Befristungen entgegengewirkt werden. Das Resultat: Mittlerweile haben – je nach Erfassung – etwa 20 bis 30 Prozent der Beschäftigten ein atypisches Beschäftigungsverhältnis – in Befristung oder Teilzeit unter 21 Wochenstunden, als Leiharbeitskraft oder Minijobber. Hinzu kommen Geringverdienende, die Vollzeit arbeiten – wie zum Beispiel im Friseurhandwerk.
Gibt es Schätzungen, wie viele Menschen derzeit im Niedriglohnsektor arbeiten?
Das betrifft fast acht Millionen Menschen. Menschen, die heute von ihrer Arbeit kaum oder nicht leben können. Und morgen das Problem der Altersarmut haben werden.
Sie sprechen von deren Renten?
Ja, genau, atypische Beschäftigung ist in der Regel auch mit geringen Einzahlungen in die Rentenkasse verbunden. Doch unser Rentensystem basiert nach wie vor auf einem Arbeitsmodell, das Vollzeit und unbefristet ist, und bei dem kontinuierlich in die Rentenkasse eingezahlt wird. In Zukunft wird die Zahl der von Altersarmut Betroffenen daher immer weiter steigen.
Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
Deutschland ist ein reiches Land und hat dieses große Problem mit den prekären Beschäftigungsverhältnissen. Deshalb muss man die Diskussion um die soziale Ungerechtigkeit führen. Der Arbeitsmarkt müsste so reguliert werden, dass es beim Verdienst eine untere Grenze gibt. Das Thema ist hier: eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns.
Da kommt häufig das Argument, dass dadurch Arbeitsplätze wegfallen …
Das lässt sich natürlich nicht von heute auf morgen durchsetzen – aber langfristig schon. Gegenargumente der Arbeitgeber sind zunächst einmal kurzfristig rational. Aber viele soziale Errungenschaften, wie zum Beispiel die Abschaffung der Kinderarbeit, wurden schließlich auch gegen die Arbeitgeberinteressen durchgesetzt.
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Axel Haunschild ist Professor für interdisziplinäre Arbeitswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover und Leiter des Weiterbildungsstudiums Arbeitswissenschaft. Er forscht unter anderem zu den Themen Wandel von Arbeits- und Organisationsformen, kreative Industrien, Nachhaltigkeit und Mitbestimmung, Work-Life-Boundaries sowie Arbeit im Kultursektor. Foto: Christian Wyrwa
© Quelle: Christian Wyrwa
Der Wandel in der Arbeitswelt betrifft auch einzelne Branchen – wer sind die Verlierer?
Durch die Digitalisierung verändert sich zum Beispiel für die Versicherungen viel – es gab viele Fusionen, die Gewinne sind stark zurückgegangen, Geschäftsfelder weggefallen. Die Banken müssen sich ebenfalls neu orientieren, seit Apple, Amazon usw. ähnliche Dienstleistungen anbieten. Auch die Tourismusbranche und der Einzelhandel stehen in einem starken und zum Teil existenzbedrohenden Wettbewerb – nicht erst seit Corona.
Und die Gewinner?
Die klaren Gewinner der Wandels sind IT und Telekommunikation sowie – vor allem coronabedingt – die Gesundheits- und die Chemie-/Pharmabranche. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit auch alle Beschäftigten in diesen Branchen gute Arbeitsbedingungen haben.
Bei den Banken, Versicherungen, im Tourismus und Einzelhandel fallen Arbeitsplätze weg. In anderen Bereichen werden welche gesucht?
Vor allem in der Pflege. Doch das alte Problem ist hier, dass die Verantwortung für Menschen schlechter bezahlt wird als die Verantwortung für Materielles. Soll sich die Gesellschaft auf diese Weise marktgetrieben weiterentwickeln? Das ist eine grundsätzliche Frage. Was wollen wir dulden? Welche Arbeitsbedingungen wünschen wir uns als Gesellschaft? Sicherlich nicht solche, wie wir zum Beispiel derzeit in Schlachthöfen vorfinden.
Wer ist hier in der Pflicht?
Ich denke da in erster Linie an Sozialpartner wie Gewerkschaften und Betriebsräte. Aber in vielen Unternehmen gibt es gar keine Betriebsräte … generell ist hier die Politik gefragt, die die Schutzrechte und Arbeitsbedingungen für alle Beschäftigten im Blick behalten muss.